Dieses Interview erschien im unerzogen-Magazin (tologo Verlag), Juli 2016
Der Kaiserschnitt ist in der Geburtshilfe weit verbreitet. Tendenz steigend. Vielen betroffenen Frauen ist im Vorfeld nicht bewusst, was die Sectio caesarea eigentlich bedeutet. Dass es sich dabei um eine schwere Bauchoperation handelt. Mit Folgen verschiedensten Ausmaßes.
Mag. Judith Raunig, klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin aus Österreich, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Kaiserschnitt und seinen Folgen. Sie unterstützt Frauen, die mit ihrem Kaiserschnitt-Erlebnis im Unreinen sind.
Seit Ihrem eigenen Kaiserschnitt-Erlebnis sind Sie
quasi Spezialistin auf diesem Gebiet und haben es sich zur Aufgabe gemacht, andere Mütter mit ähnlichem Erlebnis zu begleiten. Können Sie kurz schildern, was die häufigsten Gründe von
Kaiserschnitt-Müttern sind, Ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen?
Frauen leiden oft darunter, wie der Kaiserschnitt abgelaufen ist - dass zum Beispiel über ihren Kopf hinweg entschieden wurde, sie zu wenig (liebevolle) Unterstützung erfahren
haben, sie unter Druck gesetzt wurden oder sie mit der Entscheidung zum Kaiserschnitt einfach komplett überrumpelt worden sind. Mütter haben oft das Gefühl: „Ich habe mein Kind nicht geboren, das
hat jemand anders gemacht, ich habe nichts beigetragen, zu wenig geleistet.“ Nach der Geburt können Frauen oft nicht sofort eine enge Bindung zum Kind aufbauen (was häufig auch physiologische
Gründe hat), aber Frauen beziehen diesen Umstand auf sich und machen sich dafür selbst Vorwürfe, nach dem Motto: „Ich bin eine schlechte Mutter, wenn ich nicht sofort in den allseits propagierten
Liebesrausch verfalle“. Leider habe ich momentan auch etliche Frauen in Behandlung bei denen es Komplikationen während der OP gab, wo also zum Beispiel die PDA nicht ausreichend gewirkt
hat.
Was erwarten Frauen, wenn sie zu Ihnen kommen? Und: Wie denken Sie, können Sie am ehesten helfen?
Ich denke, der dringendste Wunsch der meisten Frauen liegt darin, endlich einmal von jemandem verstanden zu werden und sich nicht erklären zu müssen. Viele Frauen erwarten sich noch gar nicht, dass eine Aussöhnung mit dem Erlebten möglich ist. Die erste große Besserung tritt dann meistens ein, wenn Frauen erfahren, dass sie mit ihren Gefühlen ganz „normal“ sind, dass es eine „normale“ Reaktion ist auf ein unnormales Ereignis. Und nicht umgekehrt.
Was ist für Sie am Eingriff „Kaiserschnitt“ bedenklich? Warum lohnt es sich, ihn als das anzusehen, was er ist: eine schwere Bauch-Operation, die Leben retten kann, aber – so wie jede Operation – auch Folgen hat? Warum ist es sinnvoll, den Kaiserschnitt nicht als Routine-Eingriff zu bagatellisieren?
Ein Kaiserschnitt ist eben eine Operation, greift in den Körper der Frau massiv ein und hat sehr oft Traumatisierungspotential. Das hat eine natürliche Geburt natürlich auch, aber - ich behaupte - nicht in dem gleichen Ausmaß. Abgesehen von den möglichen seelischen Folgen ist ein operierter Uterus nicht mehr heil … und wird es auch nie wieder werden. Ich sehe etliche Frauen, die auch Jahre nach der OP noch Sensibilitätsstörungen oder Schmerzen haben. Frauen, die sich nicht mehr „ganz“ fühlen. Aus kinderärztlicher Sicht ist mittlerweile klar, dass ein indikationsloser Kaiserschnitt etliche Nachteile für das Kind mit sich bringt.
Wie kam es zu dem Film „Meine Narbe“? Was war Ihre Intention / Motivation? Was wollten Sie damit zeigen? Was war Ihnen wichtig?
Ich hörte einmal einen Arzt zu einer Hebamme sagen „Geh´, nach ein paar Minuten ist das der Frau doch egal, wie das Kind heraus gekommen ist!“ Ich war fassungslos, denn der Arzt sagte das aus vollster Überzeugung. Also dachte ich, ich müsse eine Möglichkeit schaffen, um auch diesen Menschen nahezubringen, was ein Kaiserschnitt mit einer Frau/einem Mann machen kann. Ich wollte nachvollziehbar machen, worunter betroffene Frauen leiden. Außerdem wollte ich den Betroffenen zeigen: „Ihr seid nicht alleine mit diesen Gefühlen. Vielen anderen geht es genauso!“ Ich wollte Mut machen, die eigenen Gefühle anzuerkennen, auszusprechen und zu verarbeiten.
Wo und wie oft wurde der Film seit seiner Veröffentlichung gezeigt? Und: Wie ist die Resonanz?
Er wurde 2014 im ORF erstausgestrahlt, ein halbes Jahr später auf 3sat. Seitdem wird er - vor allem in Deutschland - auf Tagungen und Kongressen gezeigt, sowie in der Ausbildung von Hebammen, KrankenpflegerInnen und TherapeutInnen verwendet. Wie oft er bereits gezeigt wurde, ach, das kann ich gar nicht sagen…
Haben Sie das Gefühl, dass sich in der aktuellen Geburtshilfe in Österreich (und Deutschland) „etwas tut“? Können Sie Veränderungen feststellen, zB dass mehr Aufklärung über den Kaiserschnitt erfolgt, dass sich viele Frauen wieder eher eine natürliche Geburt wünschen, etc.?
Ja, ich bin überzeugt davon. Als ich vor rund acht Jahren mit dieser Arbeit begonnen habe, gab es kaum Verständnis und so gut wie gar kein Angebot für betroffene Frauen. Mittlerweile gibt es immer mehr Selbsthilfegruppen und andere Angebote. Und ich habe auch das Gefühl, dass das gesellschaftliche Bewusstsein für die Relevanz der natürlichen Geburt steigt.
Seit einigen Jahren findet in den Industrieländern ein Umdenken statt, was Geburt betrifft. Viele Frauen und Familien scheinen eine tiefe Sehnsucht nach „ursprünglicher“, artgerechter(er) Betreuung ihrer Kinder zu haben. Auch die Wissenschaft liefert immer mehr Fakten, wie wichtig Stillen, Tragen, Bindung usw. sind. Es kommt zu einem Wiederentdecken alten Wissens, das in unseren Breitengraden und Gesellschaftsstrukturen weitgehend verloren gegangen zu sein scheint. Die Kaiserschnitt-Rate dagegen ist so hoch wie nie zuvor. So kommt in Österreich und Deutschland jedes dritte Kind derzeit per Kaiserschnitt zur Welt. Wie können Sie sich das erklären?
Da gibt es viele verschiedene Gründe, aber kurz gesagt: Ein Kaiserschnitt ist günstiger, weil planbarer und kalkulierbarer als eine natürliche Geburt. Dazu kommt, dass viele GeburtshelferInnen verlernt haben, kompliziertere Geburten zu begleiten; das Wissen und das Vertrauen in die Fähigkeiten gehen zurück; Geburtshilfe wird defensiv betrieben. Und jeder Kaiserschnitt trägt wiederum zum Steigen der Rate bei, weil nach einem Kaiserschnitt noch viel schneller zum Messer gegriffen wird.
Ist der Kaiserschnitt wirklich nur ein Phänomen der Industrieländer?
Interessant ist, dass es auch etliche Industrieländer gibt, die eine sehr geringe Kaiserschnittrate haben (Finnland, Island, Norwegen….) bzw. eine gleichbleibende Sektio-Rate in den letzen zehn Jahren. Man sollte sich zunächst genau ansehen, wie diese Länder das machen. Dann gibt es noch eine andere interessante Zahl: Aus einem WHO-Bericht geht hervor, dass man mit den Kosten der nicht notwendigen Sektios der Industrieländer um ein Fünffaches die notwendigen Sektios in den Entwicklungsländern finanziellen könnte. Dort bräuchte es nämlich mitunter oft mehr Kaiserschnitte, um Kindern oder Müttern das Leben zu retten. Dieser Aspekt wird ja nie betrachtet, aber es ist in der Tat eine unfassbare Verschwendung wichtiger gesundheitsökonomischer Ressourcen, die hier stattfindet.
Was können und möchten Sie Frauen, die sich mit ihrem Kaiserschnitt-Erlebnis im Unreinen fühlen, mit auf den Weg geben? Was wünschen Sie sich persönlich?
Zuerst einmal, dass sie sich selbst und ihre Gefühle mit einem liebevollen Blick betrachten, sich selbst sagen: „Es ist ok, wie es mir geht, und ich bin ok.“ Weiters wünsche ich Frauen, die durch ihren Kaiserschnitt belastet sind, dass sie Hilfe und Unterstützung finden können, um das Erlebte verarbeiten zu können und - im besten Fall - auch etwas Positives daraus zu ziehen. Denn ein Kaiserschnitt bringt auch die Möglichkeit, gestärkt daraus hervorzutreten. Manchmal ist der Weg dorthin nur etwas länger …
Danke, Frau Mag. Raunig. Für das Gespräch. Und für Ihre Arbeit im Allgemeinen!
Literatur:
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Das Interview führte Mag. Susanne Sommer:
www.textbewegungen.at
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Mehr über Mag. Judith Raunig:
http://www.nach-dem-kaiserschnitt.at
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Informationen und Bezugsmöglichkeiten des Dokumentar-Films
„Meine Narbe. Ein Schnitt ins Leben“:
http://www.geyrhalterfilm.com/meine_narbe
Dieses Interview erschien im unerzogen-Magazin (tologo Verlag), Juli 2016
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Rebecca Broder (Freitag, 03 Februar 2017 21:38)
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