Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift "TAU - magazin für barfußpolitik", 2/2018
Geburt MACHT etwas mit uns! Immer! Läuft bei der Geburt etwas anders als "vorgesehen", dann hat das Folgen. Und zwar auch immer. Und in vielen Bereichen ...
Es ist der 24. April 2013. Fast sechs Wochen vor dem errechneten Geburtstermin meines Sohnes. Status: Beckenendlage. Mitten in der Nacht geht es los: Erbrechen, Durchfall, Fieber. Ich habe „Bauchschmerzen“. Wehen? Wir fahren ins Krankenhaus. Eine sich ewig hinziehende Blutuntersuchung ergibt nichts. Die Herztöne meines Sohnes sind (angeblich) bedenklich. Die Entscheidung fällt: Sectio! Ich bin verwirrt, geschockt. Ist das notwendig? Ja. Warum? Der Stress sei für das Baby bedenklich hoch. Ich fühle mich elend. Und habe Angst. Schließlich unterschreibe ich diverse Zettel, die vor meinem Gesicht herumflattern. Ich male unter Verrenkungen irgendein Zeichen drauf, während ich Kompressionsstrümpfe angezogen bekomme. Dann: Operationstisch. Grelles Licht. Ich werde angeschnallt. Von Menschen, die ich nicht kenne und wegen ihrer Masken auch nicht sehe. Schmerzhafte Spinalanästhesie. Ich spüre den Schnitt. Mein Sohn ist geboren. Die Nabelschnur ist durchtrennt. Habe ich da etwas verpasst? Er wird mir kurz gezeigt. Ich kann ihn nicht berühren. Dann ist er weg. Und zwar ganz weg. Für einen Monat auf der Intensivstation in einem anderen Spital am anderen Ende der Stadt. Er kann ohne Hilfe nicht atmen. Wir sind getrennt, voneinander und von uns selbst. Der „Herzensfaden“ ist zerschnitten. Wir werden viel Zeit und Geduld brauchen, um ihn wieder zu knüpfen.
Vertrauen ist für Menschen unendlich wichtig. Für unser Tun, Sein, für unsere Entscheidungen, unsere Selbstverständlichkeit. Fürs Lernen. Fürs Leben. Vertrauen ist ein essentieller Baustein psychischer Gesundheit. Bereits während der Schwangerschaft wird das Fundament dafür gelegt. Das Ungeborene findet im Mutterleib optimale Bedingungen für Entwicklung und Wachstum vor. Es fühlt sich genährt, verbunden, sicher. In dieser sensiblen Zeit entsteht auch seine Erwartung, dass das immer so weitergehen wird. Irgendwann kommt die Geburt. Das Ungeborene hilft aktiv mit und bahnt sich seinen Weg ins Leben in Zusammenarbeit mit dem Menschen, den es „inwendig“ so gut kennt. Und bei dem es – nach der Geburt – auch „auswendig“ sofort Halt findet.
Leider wird eine derartige „von der Natur vorgesehene“ Geburt immer mehr zur Besonderheit. Bei jeder fünften deutschen und österreichischen Frau wird die Geburt mit Medikamenten eingeleitet, jede dritte bekommt mittendrin Wehenmittel, mehr als die Hälfte eine Anästhesie. Bei abfallenden Herztönen (Medikamente und fehlendes Gespür der betäubten Mutter setzen dem Baby zu) wird die Geburt per Saugglocke oder Notkaiserschnitt beendet. Jedes dritte Kind wird durch eine sectio caesarea geboren. Das bedeutet aber vor allem eines: Trennung. Wenn auch noch so kurz. Und die hat Folgen. Jede Maßnahme, die in den natürlich vorgesehenen Geburtsvorgang eingreift, rüttelt am Vertrauen. Das Baby wird überrascht; es wird ihm das Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit genommen. Die Erwartung, dass das Leben gut für es sorgt und in Mama eine verlässliche Partnerin an der Seite steht, wird nicht erfüllt. Die Wissenschaft ist sich einig: Wenn das Vertrauen durch ein „nicht optimales Geburtserlebnis“ fehlt, dann bedeutet das für den neuen Erdenbürger: Stress. Bei Kindern mit traumatischem Geburtserlebnis können noch Jahre später erhöhte Werte von Stresshormonen im Blut nachgewiesen werden. Derartige Erlebnisse rütteln außerdem am Vertrauen der Mutter. Viele Frauen fühlen sich unfähig, ohnmächtig, unverstanden. Schuldig. Natürlich gibt es auch Frauen, die schnell wieder mit sich im Reinen sind. Menschen sind unterschiedlich, verarbeiten Erfahrungen anders – abhängig davon, was sie bisher erlebt und gelernt haben. Manche Frauen bereiten sich auch schon während der Schwangerschaft gezielt auf mögliche „brenzlige Situationen“ vor und können durch Achtsamkeit ihren und den Stresslevel des Babys reduzieren. Auch Babys sind in ihrem Wesen individuell. Wie sie die Geburt erleben, hängt von vielen Faktoren ab, wie zum Beispiel von ihren Erfahrungen während ihrer Zeit im Bauch der Mutter, ob sie zu früh zur Welt kommen etc. Doch selbst wenn sich vieles im Leben reguliert (weil unser Gehirn so lernfähig und veränderbar ist), MACHT die Geburt etwas mit uns Menschen. Es ist einfach nicht egal, wie wir geboren werden!
Wie mir unser Geburtserlebnis zeigte, ist die Natur nicht kontrollier- oder planbar. Und so dämmerte mir zum ersten Mal in meinem Leben die Absurdität von Absicherungen. Ich konnte allmählich erkennen, dass es mir nicht nur an Vertrauen in mich als Mutter mangelte, sondern auch an Vertrauen in mich als Mensch, in meine Handlungsfähigkeit, in das Leben generell. Ich betrieb ehrliche Gewissensforschung, immer „schön“ angeleitet durch die nicht zu ignorierenden Impulse meines Sohnes. Der zum Beispiel weder nach Uhrzeittaktung noch Mutterbefindlichkeiten schlief; der mich aufforderte, bisher Gelerntes und als selbstverständlich Abgespeichertes zu hinterfragen. Der mir zum Beispiel vor Augen führte, wie absurd es ist, Kinder wegen Terminen zu wecken. Der mir eine neue, ja sensiblere Wahrnehmung für die Schnelligkeit und den permanenten Lautstärke-Pegel unserer Welt gab. Der stundenlang weinte, wenn zu viele Reize auf ihn einströmten. Mein Sohn, der sich beim geringsten Erspüren von Zwang oder Druck einfach verweigerte. Der mich gewisse Traditionen ob ihrer Sinnhaftigkeit hinterfragen ließ. Der zu verstehen gab, wie respektlos es ist, wenn Erwachsene über die Köpfe junger Menschen einfach hinwegreden und -entscheiden, als wären diese gar nicht da. Der mich den Weg der Einfachheit, des „Weniger-ist-mehr“ entlang schickte. Der mich in eine neue Alltagsgestaltung und Lebenshaltung eintauchen ließ.
Mein Sohn brachte mich auf Kurs. Auf den Weg zu einem tieferen Verständnis von Eigenverantwortung. Es liegt letztlich allein in meiner Verantwortung, ob ich ein zwar gesellschaftlich akkordiertes, doch „fremdes“ Leben führe. Ich kam zur Einsicht, dass ich immer zuerst in mich hineinhorchen und dann für mein Leben entscheiden darf. Mit der Erkenntnis, dass ich mir selbst vertrauen darf (weil ich selbst am besten weiß, wer ich bin und was mir gut tut), tat ich einen Riesenschritt.. Nach dem Dämmern kam die Klarheit: Jeder Mensch ist hochkompetent, von Anfang an. Lernen findet IMMER statt; allerdings müssen die Voraussetzungen dafür gegeben sein. Nämlich das Vertrauen, dass jeder Mensch nach Entfaltung strebt und selbst die nötigen Schritte in dem ihm innewohnenden Tempo setzt. Aber genau hier hapert es oft. Bei diesem Warten, Sein-Lassen.
Beinah fünf Jahre sind seit der Geburt meines Sohnes vergangen. Immer mehr darf ich erkennen, was mir wirklich wichtig ist, wofür ich gern einstehen möchte. Ich durfte erleben, dass unterbrochenes Vertrauen nicht bedeutet, dass „alles hin“ ist, sondern dass durch Hingabe und Achtsamkeit sogar tieferes Vertrauen entstehen kann. Und dass ich selbst bewusste Erfahrungsgestalterin sein und somit für viele unvergessliche Momente in unser beider Leben sorgen kann. Momente, die in unsere Gehirne hineingeschrieben werden. Und vielleicht sogar Negatives ÜBERschreiben? Ich werde meinen Weg machen, und er wird seinen Weg machen. Dabei bleiben wir in Verbindung. Das ist alles, was es braucht.. Denn so lernen wir Menschen: durch selbstbestimmte Er-Fahrung unseres EIGENEN Lebensweges. Nicht durch marionettenhaftes Dahinbrettern auf einer goutierten Autobahnroute durch „das Leben, wie es halt so ist“. JA, so sind wir Menschen geschnitzt: Von Natur aus wissbegierig, kompetent. Und – wenn nicht unterbrochen, beurteilt oder gelenkt – eigeninitiativ und voller Elan. Bereit für neue Abenteuer. Für lernen, lernen, lernen. Und leben, leben, leben …
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