Warum der Kaiserschnitt mehr als ein kleines „Ritzerl“ ist
Dieser Text erschien in der Zeitschrift "Mit Kindern wachsen", Juni 2017
Zum Thema „Kaiserschnitt“ gibt es bereits viel Literatur. Doch immer wieder packt mich ein „Was ich noch zu sagen hätte …“. Immer wieder sehe ich, wie wichtig es ist, diese Art der Geburtshilfe qualitativ zu thematisieren. Anstatt zu tabuisieren. Damit kein Zweifel mehr besteht: Jede Intervention in den natürlichen Geburtsverlauf – der Kaiserschnitt ist dabei die krönende I-Tüpfelchen – rüttelt am Vertrauen von Kind und Eltern.
Bedenklich, aber Realität: Die geburtshilfliche Kultur in Deutschland und Österreich (sowie in vielen anderen Industrieländern) ist von Gewalt geprägt ist. Laut Expertenschätzung sind bis zu 50 Prozent aller Gebärenden von gewaltsamen Erfahrungen und Übergriffigkeiten während der Geburt betroffen. Der Kaiserschnitt ist nur einer von vielen Farbtupfern auf der großen Gewalt-Palette. Natürlich kann die sectio caesarae auch Leben retten. Und natürlich gibt es auch Frauen, die wirklich gut darauf vorbereitet sind, die ihr Ungeborenes achtsam auf das Bevorstehende einstimmen, die schnell wieder mit sich und der Welt im Reinen sind. Tatsächlich aber ist der Kaiserschnitt schon lange keine seltene Notfall-, sondern eher eine Regelmaßnahme: Jedes dritte Kind in Deutschland und Österreich wird so geboren! Weltweit werden jährlich 6,2 Mio. Kaiserschnitte ohne eindeutige medizinische Indikation durchgeführt. Und leider geht es den wenigsten Betroffenen danach wirklich gut. Denn egal wie wichtig und „richtig“ die Durchführung eines Kaiserschnitts vielleicht war, im Endeffekt kommt es dabei immer zu einem folgenschweren Verlust: dem Verlust von Vertrauen. Und dieses wiederzubekommen, ist gar nicht so einfach …
Vertrauen beginnt mit Vertrauen
Duden-Eintrag:
Vertrauen, das. Substantiv, Neutrum.
Festes Überzeugtsein von der Verlässlichkeit, Zuverlässigkeit einer Person oder Sache. Synonyme : Glaube, Optimismus, Zutrauen, Zuversicht, Zuversichtlichkeit.
Die Wissenschaft ist sich heute einig: Jeder Mensch wird mit einem Rucksack voll Vertrauen geboren. Mit dem sogenannten Urvertrauen. Einem essentiellen Baustein für psychische Gesundheit. Bereits während der Schwangerschaft wird das Fundament dafür gelegt. Das Ungeborene findet im Mutterleib optimale Bedingungen für Entwicklung und Wachstum vor. Es fühlt sich genährt, verbunden, sicher. In dieser sensiblen Zeit entsteht auch seine Erwartung, dass dies immer so weitergehen wird. Vertrauen in die eigene Kompetenz und in die Zuverlässigkeit der Mutter keimen. Doch dann kommt irgendwann die Geburt. Das Ungeborene gibt selbst den Impuls dazu und wird auf wundersame Weise durch Hormone und andere Botenstoffe auf die nun kommende Veränderung vorbereitet. Es hilft aktiv mit und bahnt sich seinen Weg ins Leben. In Zusammenarbeit mit dem einen Menschen, den es „inwendig“ so gut kennt. Und bei dem es – nach der Geburt – auch „auswendig“ sofort Halt findet. Mama. Der Schock des Übergangs ist zwar groß, das Vertrauen kurzfristig erschüttert. Aber egal, Mama ist da. Das Baby fühlt sich sicher. Und bestärkt darin, dass sein Vertrauen „richtig“ war. Sukzessive wird es sich dieser zunächst so fremden Welt zuwenden. Die Basis dafür ist ein unumstößliches Vertrauen: Das Leben ist gut – Ich bin gut – Ich finde mich zurecht.
So der Idealfall. Oder eigentlich der Normalfall. Denn das sind die für uns Menschen naturgemäßen Erwartungen an den Eintritt ins Leben.
Und was, wenn nicht?
Leider wird der Normalfall immer mehr zur Besonderheit. Bei jeder fünften deutschen Frau wird die Geburt mit Medikamenten eingeleitet, jede dritte bekommt mittendrin Wehenmittel, mehr als die Hälfte eine Anästhesie. Bei abfallenden Herztönen (ja, Medikamente und fehlendes Gespür der betäubten Mutter setzen dem Baby zu) wird die Geburt per Saugglocke oder Notkaiserschnitt beendet. Der Kaiserschnitt bedeutet aber vor allem eines: Trennung. Wenn auch noch so kurz. Und die hat Folgen …
Jede Maßnahme, die in den natürlich vorgesehenen Geburtsvorgang eingreift, rüttelt am Vertrauen. Das Baby wird überrascht, überrumpelt; es wird ihm das Vertrauen in die eigene Handlungsfähigkeit genommen. Die Erwartung, dass das Leben gut für es sorgt und in Mama eine verlässliche Partnerin an der Seite steht, wird nicht erfüllt. Jean Liedloff, Autorin des weltbekannten Buches „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“, erkannte das Dilemma bereits in den 1970er-Jahren: „Die Zeit unmittelbar nach der Geburt ist der Teil des Lebens außerhalb des Mutterleibes, der die nachhaltigsten Eindrücke hinterlässt. Was einem Baby dann begegnet, ist für sein Gefühl das Wesen des Lebens selbst, so, wie es sein wird. Jeder spätere Eindruck kann […] jenen ersten Eindruck lediglich modifizieren […].Seine Erwartungen sind die unflexibelsten, die es je hegen wird. Die Veränderung gegenüber der uneingeschränkten Gastlichkeit des Mutterleibs ist gewaltig, aber [es] wurde vorbereitet auf den großen Sprung vom Mutterleib zu seinem Platz auf den Armen. Nicht vorbereitet hingegen wurde es auf irgendeinen noch größeren Sprung – geschweige denn auf einen Sprung ins Nichts, in Nicht-Leben, in einen Korb mit Stoff ausgeschlagen oder in ein Plastikkästchen, das sich nicht bewegt, keinen Ton von sich gibt, das weder den Geruch noch das Gefühl von Leben aufweist. Kein Wunder, wenn das gewaltsame Auseinanderreißen des Mutter-Kind-Kontinuums […] sowohl Depression bei der Mutter als auch Todesangst beim Säugling auslöst.“ Die berühmte Pädagogin und Autorin Rebecca Wild beschrieb diese Tatsache in ihrem letzten Buch „Entwicklungsetappen“ ähnlich: „Als Erstes hat das Kind die Erwartung, auf dem Körper der Mutter zu landen, und zwar in einem ganz bestimmten Abstand und Winkel zu ihrem Gesicht. […] Sobald das Kind die Silhouette ihres Gesichtes erblickt, fühlt es sich bestätigt, dass es in eine Welt von menschlicher Qualität gekommen ist und beruhigt sich […]. Mit dieser Sicherheit beginnt das Kind dann, seine Bewegungen und Sinne neu zu aktivieren.“
Bumm. Das ist für hadernde Kaiserschnitt-Mütter harte Kost. Denn die wenigsten Kaiserschnitt-Mütter halten ihr Baby gleich nach der Geburt in ihren Armen und schwelgen in Glückseligkeit. Und auch ich schluckte bei diesen Informationen schwer. Denn die vertrauensseligen Erwartungen meines Sohnes an das Leben nach der Geburt wurden wohl – euphemistisch gesprochen – nicht so ganz erfüllt: angstbesetzte Schwangerschaft, viel zu frühe Geburt, Kaiserschnitt, Trennung, Neonatologie. Würde ich die Geburtssituation meines Sohnes mit Noten bewerten, dann wär’s wohl eine glatte 5. Oder eine 6, wenn ich den deutschen Maßstab hernehme. Total versemmelt. Total verbockt. Ja, so hart ging ich mit mir selbst ins Gericht, als ich mich noch selbst anklagte. Und damit bin ich nicht allein. Aber fangen wir besser von vorne an …
Der Vertrauensbruch
Es ist der 24. April 2013. Fast sechs Wochen vor dem errechneten Geburtstermin meines Sohnes. Status: Beckenendlage. Mitten in der Nacht geht es los: ständiges Erbrechen, wasserfallartiger Durchfall. Fieber. Ich habe „Bauchschmerzen“. Wehen? Wir fahren ins Krankenhaus. Eine sich ewig hinziehende Blutuntersuchung ergibt nichts. Die Herztöne meines Sohnes sind (angeblich) bedenklich. Und verschlechtern sich. Die Entscheidung fällt: Sectio! Ich bin überrascht, verwirrt, geschockt. Ist das notwendig? Ja. Warum? Der Stress sei für das Baby bedenklich hoch. Ich fühle mich elend. Und habe Angst. Schließlich unterschreibe ich geistesabwesend diverse Zettel, die vor meinem Gesicht herumflattern. Ich male unter Verrenkungen irgendein Zeichen drauf, während ich Kompressionsstrümpfe angezogen bekomme. Dann: Operationstisch. Grelles Licht. Ich werde angeschnallt. Von Menschen, die ich nicht kenne und wegen ihrer Masken auch nicht sehe. Sie reden mit mir. Aber ich höre nichts. Und verstehe nicht, was passiert. Schmerzhafte Spinalanästhesie. Ich spüre den Schnitt. Mein Sohn ist geboren. Die Nabelschnur ist durchtrennt. Habe ich da etwas verpasst? Er wird mir kurz gezeigt. Ich kann ihn nicht berühren. Dann ist er weg. Und zwar ganz weg. Für einen Monat auf der Intensivstation in einem anderen Spital am anderen Ende der Stadt. Er kann ohne Hilfe nicht atmen. Während ich nach der Operation „scheppere“ als hätte ich Schüttelfrost (man sagt mir, das sei normal), weine und Beruhigungsmittel bekomme, verfällt mein Mann in eine Art Erschöpfungszustand. Wir alle sind getrennt, voneinander und von uns selbst. Das Band des Vertrauens ist zerschnitten. Wir werden viel Zeit und Geduld brauchen, um es wieder zu knüpfen. Bis heute nähen, flicken, stricken und spinnen wir an dem „Herzensfaden“, der uns einst so selbstverständlich verband.
Der „rosarote Herzensfaden“ ist übrigens eine „Erfindung“ der Schweizer Hebamme Brigitte Renate Meissner, die seit Jahren intensiv und einfühlsam daran arbeitet, die nicht sichtbaren Verletzungen nach Kaiserschnitt zu lindern. Eine wertvolle Hilfestellung, um das zerrüttete Vertrauen der Mütter in ihre Kompetenz und Intuition wiederherzustellen. In einer Art Meditation rekonstruiert die Mutter all jene Momente des Geburtsgeschehens, in denen sie die Verbindung zu sich und ihrem Kind verloren hatte, indem sie einen imaginären rosaroten Faden von ihrem Herzen zu dem des Babys spannt. Einen Faden, der niemals reißen oder zu kurz sein kann. Selbst wenn es real zur Trennung kommt. Eine einfache, aber heilsame Möglichkeit, Verlorenes nachzuholen …
Wo das Vertrauen fehlt, wird’s holprig
Auch der bekannte Neurowissenschaftler Gerald Hüther schreibt in seinem Buch „Jedes Kind ist hochbegabt“ Folgendes: „Das Kind hat im Mutterbauch bereits [erlebt], dass seine Bedürfnisse befriedigt wurden und es sein Leben dort zu meistern imstande war. […] Diese Erfahrung ist fest in seinem Gehirn verankert. Und so soll es bitte auch nach der Geburt weitergehen. Das Kind vertraut darauf, weiterhin gehalten und getragen, beschützt und versorgt zu werden. […] Das Schlimmste, was einem Kind passieren kann, ist der Verlust dieses Vertrauens.“
Alle wissenschaftlichen Untersuchungen kommen zum selben Ergebnis: Wenn das Vertrauen durch ein „nicht optimales Geburtserlebnis“ fehlt, dann bedeutet das für den neuen Erdenbürger vor allem eines: latenter und permanenter Stress. Keine guten Voraussetzungen für entspannte Entwicklung. „Babys, die nur damit beschäftigt sind, sich zu vergewissern, dass sie nicht allein sind, haben keine Kapazität, interessante Entdeckungen zu verarbeiten", so der Bindungsforscher Dr. Karl Heinz Brisch von der Universität München. Bei vielen Kindern mit traumatischem Geburtserlebnis können noch Jahre später erhöhte Werte von Stresshormonen im Blut nachgewiesen werden. Will heißen: Die Verunsicherung ist groß. Sie ist tief in jeder Zelle gespeichert. Robin Grille, australischer Psychologe, dazu: „Jede emotional bedeutende Erfahrung, ob freudiger oder schmerzlicher Natur, wird als Erinnerung gespeichert und hat dauerhafte Folgen für das sich entwickelnde Nervensystem des Babys. […] Und wir „erinnern“ uns an viel mehr, als uns bewusst ist. […] Ein so großer Teil von dem, was wir denken, fühlen und tun, wird durch implizite Erinnerungen erzeugt, die in Muskeln, Sehnen, Faszien und Eingeweide „hineingeschrieben“ sind. Keine einzige unserer Erfahrungen geht verloren.“ Unser Körper hat demnach ein Gedächtnis. Noch dazu ein sehr gutes.
Die Folgen
Viele Kaiserschnittmütter können diesen Stress bei ihren Kindern beobachten. Sie sehen Kinder, die sich nicht leichtfüßig durch’s Leben bewegen, sich dem Leben nicht so vorbehaltlos zuwenden. Natürlich kommt das auch bei Kindern vor, die eine „natürliche“ Geburt erlebten. Und natürlich ist auch nicht immer nur der Kaiserschnitt verantwortlich zu machen. Das wäre zu einfach gedacht. Es ist stets ein Zusammenwirken verschiedenster Faktoren. Jeder Mensch verarbeitet Erlebnisse auf individuelle Weise. Es gibt demnach weder DAS Kaiserschnitt-Kind, noch DIE Kaiserschnitt-Mutter. Dennoch gibt es unübersehbare Gemeinsamkeiten.
Zunächst führt der Kaiserschnitt fast immer zur „zu frühen Geburt“. Jeder Tag allerdings, den das Ungeborene in der geschützten intrauterinen Atmosphäre verbringt, ist ein Gewinn. Denn gerade im letzten Schwangerschaftsmonat kommt es im Gehirn zu starken und wichtigen Differenzierungen. Es bereitet sich allmählich auf die „Überflutung von Außen“ vor. Zu früh geborene Kinder konnten diese Fähigkeit – also Reize auszufiltern und nur das zuzulassen, was gerade an Verarbeitung möglich ist – schlecht oder gar nicht entwickeln. Ein wichtiger Schutzmechanismus fehlt also. Und kann nie mehr nachgeholt werden! Das Gehirn hat allerdings die Möglichkeit, neue Strategien zu entwickeln. Aber das braucht Zeit. Und ist nicht einfach, in einer Welt, die nun einmal laut, schnell, chaotisch ist. Die deutsche Prä- und Perinatal-Psychologin Ilka-Maria Thurmann weist außerdem darauf hin, dass Geburtseinleitung durch Wehenmittel, Medikamente wie PDA (Periduralanästhesie) sowie ein Geburtsabschluss durch Saugglocke oder Kaiserschnitt das „Naturell“ des Kindes entscheidend mitprägen. Hier können Ein- und Durchschlafprobleme wurzeln, Krankheitsbilder und Diagnosen wie AD(H)S begründet sein. Ein geringes Selbstwertgefühl, Rückzug statt Kontaktsuche, Ohnmachtsgefühle, aber auch verstärktes Kontrollbedürfnis sind mögliche psychologische Auswirkungen. Diabetes-, Asthma- und Allergie-Erkrankungen stehen zusätzlich in direktem Zusammenhang mit dieser Art der Geburt.
Auch für die Mutter sind die Aussichten bei und nach Kaiserschnitt nicht gerade rosig: erhöhtes Sterblichkeitsrisiko, Verletzung der benachbarten Organe, hoher Blutverlust, Folgeoperationen, Narkose-Unverträglichkeiten, chronische Narbenschmerzen, eine erschwerte bzw. komplikationsreichere erneute Schwangerschaft. Auch die Gefühlswelt der Mutter ist durcheinander. Das erhoffte Glücksgefühl der Geburt stellt sich oft verspätet ein. Stillprobleme sind häufig. Viele Frauen fühlen sich überrumpelt, unfähig, ohnmächtig, unverstanden und schuldig.
Gehört-Werden als „Therapie“
Zusammenfassung: Nach traumatischen Geburten treffen oft zweifelnde und verzweifelte Mütter auf Babys mit „besonderen Bedürfnissen“. Diese Situation ist schwer zu meistern. Schon gar nicht ohne feinfühlige, verständnisvolle Unterstützung. Gut gemeinte Aufheiterungsversuche à la „ist doch eh gesund“ oder „andere erleben noch viel Schlimmeres“ helfen niemandem. Abwertungen und Ratschläge im Sinne von „ach, mach kein Drama daraus; bis es heiratet, ist alles wieder gut“ verschlimmern die Situation vieler Mütter eher, als dass sie ihnen dienen. Denn die Mehrheit der betroffenen Mütter will primär in ihrem Kummer, ihren Sorgen gehört werden. Sie möchten einfach darüber reden, anstatt aufgrund von Tabuisierung zum Schweigen gebracht zu werden. Sie möchten bestärkt werden, indem man ihnen Kompetenz zutraut. Damit sie selbst wieder Vertrauen fassen können. Hat die Mutter die Chance, ihre Gefühle und Ängste einem achtsamen Zuhörer mitzuteilen – einem Zuhörer, der ihre Situation weder herunterspielt noch belächelt, weder anzweifelt noch beurteilt – dann ist meines Erachtens der erste Schritt in Richtung Aussöhnung mit dem Geburtserlebnis getan. Den einzigen Rat, den ich voller Überzeugung zu geben pflege: Sucht Euch Menschen, die Ähnliches erlebt oder die wunderbare Gabe haben, einfach zuzuhören und ausreden zu lassen. Dann wird Vieles leichter.
Wenn aus Schuld Vertrauen wird
Vier Jahre sind seit der Geburt meines Sohnes vergangen. In dieser Zeit habe ich viel gelernt. Ich habe gelernt, meine Gedanken und Glaubenssätze zu identifizieren; ich habe gelernt, Ängste zu erkennen und loszulassen. Ich habe gelernt, genau hinzusehen und zuzuhören. Diese Zeit half mir auch bei der Entwicklung von Eigenschaften wie Geduld, Großzügigkeit und Gewahrsam. Die „Praxis der Achtsamkeit“ hat mir sehr geholfen, mich selbst weniger zu be- und verurteilen, mich mehr zu lieben, mich als Mensch anzunehmen. Und ich kam zu der Einsicht: Ich bin nicht schuld. Ein „Hätte ich doch“, ein „Könnte ich doch“, ein „Wenn … dann“ – das alles gibt es nicht mehr in meinem Leben. Oder immer seltener. Denn ich weiß in der Zwischenzeit, dass ich zu jedem Zeitpunkt mein Bestmögliches getan und gegeben habe (auch wenn ich aus heutiger Sicht Vieles „anders“ machen würde). Doch diese Einsicht brauchte viel Zeit und Achtsamkeit. Lienhard Valentin sagt: „Bei der Achtsamkeitspraxis betonen wir nicht, was an den Menschen „falsch“ ist, sondern vielmehr, was „richtig“ ist: ihre Fähigkeit, sich weiterzuentwickeln, ihre inneren Ressourcen zu mobilisieren und ihre Verhaltensmuster auf neue, kreative Weise zu verändern.“ Achtsamkeit und Selbstmitgefühl wurden mir hilfreiche „Werkzeuge“, mich mit den „Umständen“ und mir selbst auszusöhnen.
Natürlich ist es mir wichtig, weiter an meinen „wunden Punkten“ zu arbeiten. Aber nicht durch Selbstverurteilung, sondern durch Bewusstheit. So kann allmählich Schuld durch Vertrauen ersetzt werden. Durch ein Vertrauen ins Leben, in mich und meinen Sohn: Ich werde meinen Weg machen, und mein Sohn wird seinen Weg machen. Und dabei stehen und bleiben wir in Verbindung. Das ist alles, was es braucht. Ja, er hat seinen ganz speziell befüllten Rucksack. Aber ob er diesen als Belastung oder Inspiration während seiner Lebenswanderung erlebt, wird viel von seinen weiteren Erfahrungen abhängen. Viele davon kann ich nicht beeinflussen, manche dagegen sehrwohl. Genau deshalb habe ich mich zur bewussten Erfahrungsgestalterin ernannt. Egal, was passiert ist: Wir machen jetzt etwas Gutes daraus. Mit vielen positiven, bestärkenden und liebevollen Erlebnissen. Die allesamt als „neuer Proviant“ in den Lebensrucksack gepackt werden. Denn jede Erfahrung zählt! Mit den wunderbaren Worten des Psychologen Robin Grille darf ich an dieser Stelle schließen: „Jeder Moment der Liebe, den wir unseren Kindern […] mit auf den Weg geben, [wird] sie für den Rest ihres Lebens begleiten.“
Literatur-Box:
- Robin Grille: An was sich Ihr Kind erinnert. Neuere Erkenntnisse über frühe Erinnerungen und welchen Einfluss sie auf uns haben. Artikel erschienen in „Mit Kindern wachsen. Arbor Verlag. Juli 2015
- Gerald Hüther, Uli Hauser: Jedes Kind ist hochbegabt. Die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen. btb. 2014
- Jon Kabat-Zinn & Lienhard Valentin: Stressbewältigung durch die Praxis der Achtsamkeit. Buch & CD. Arbor Verlag. 2014
- Jean Liedloff: Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Verlag C. H. Beck. 2009
- Brigitte Renate Meissner: Kaiserschnitt und Kaiserschnittmütter. Brigitte Meissner Verlag. 2013
- Ilka-Maria Thurmann: Kaiserschnitt heilsam verarbeiten. Die Prä- und perinatal basierte Spieltherapie nach Thurmann. Mabuse-Verlag. 2015
- Rebecca Wild: Entwicklungsetappen. Montessori Stiftung Herisau. 2016
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