Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift "die freilerner - Zeitschrift für selbstbestimmtes Leben und Lernen", 01/2018
Klarheit über mich selbst bekommen, mich selbst klarer sehen können. Diese Art der „Aufklärung“ bringt mein Sohn seit mittlerweile 4,5 Jahren in mein Leben. Immer wieder – ja täglich – sorgt er für mehr Klarheit in meinem Geist und Herzen. Und für ein selbstbestimmteres Leben.
Bevor mein Sohn geboren wurde, verbrachte ich mein Leben hauptsächlich im „Unbewusst-Modus“. Ich besuchte die Schule, absolvierte ein Studium, ging einer Arbeit im Angestelltenverhältnis nach. Weil man das eben so macht. Ich machte viele Dinge, nicht, weil ich dafür brannte, sondern weil sie „halt einfach dazugehörten“. Ich ließ vieles über mich ergehen, um Unannehmlichkeiten auszuweichen. Was es heißt, aktiv für mich und meine Lebensgestaltung einzutreten, mich selbst als Mensch wahr- und ernstzunehmen, ging mir erst in meinem Muttersein auf.
Die Klärung des Weges …
Die Geburt meines Sohnes läutete für mich eine große Veränderung ein. Eine Veränderung in mir selbst. Schlagartig wurde ich mir meiner Verantwortung bewusst. Dass alles, was ich machte (oder nicht), Auswirkungen und Folgen hatte. Dass es wichtig war, mir über meine Motive, mein Handeln, mein Sein klarzuwerden. Ich musste also in erster Linie Verantwortung für mich selbst übernehmen. Und das jeden Tag aufs Neue. Vieles aus meinem bisherigen Leben, aus meiner Art zu denken, meinen tradierten Vorstellungen, passte nicht mehr. Ich begann zu spüren, was ich nicht (mehr) will. Als Beispiel sei das Weihnachtsfest genannt. Wollte ich weiterhin die sinnentleerte Geschenkeflut, den Stress des „Alle-Besuchens-und-ja-niemanden-Vergessens“ unterstützen? Wollte ich ignorieren, dass meinen Sohn dieser Wirbel extrem stresste? Wollte ich ihm Geschichten vom Christkind auftischen, wo ich doch sah, wie ihn derartige Heimlichtuereien ängstigten? Nein, das wollte ich nicht. Andere Werte traten in den Vordergrund. Werte, die ich mit meiner neuen, kleinen Familie leben wollte. Ein ruhiges Fest, Besinnung auf das Wesentliche, keine Märchen. Ich wollte das Recht meines Sohnes auf Unwissenheit in spirituellen Fragen wahren. Mir wurde klar, dass es Folgen hat, was ich meinem Sohn erzähle, welche Bilder ich ihm mitgebe, was meine Worte bewirken. Ich wollte ihm einfach nichts als gegeben präsentieren, von dem ich selbst nicht sicher sein kann. Kinder sind nun mal Menschen. Und als solche haben sie Augen, Ohren und alle anderen Sinne auch. Sie lernen, täglich, ständig, aus sich selbst heraus. Und wenden sich allen Fragen, die in ihrer Entwicklung anstehen, eigenmächtig zu. Auch spirituellen Fragen wie „Woher kommen wir? Wohin gehen wir?“. Und dann machen sie sich selbst ihren Reim drauf, so wie sie alle Zusammenhänge auf dieser Welt selbstständig erforschen.
Die Klärung der Möglichkeiten …
Für meinen Sohn wünsche ich mir, dass er während seines Heranwachsens in sich selbst verwurzelt bleiben darf und kann. Dass er weiß, was er will. Dass er in sich hineinhorcht und dann entscheidet. Ist es dann nicht meine dringende Aufgabe als Mutter und Mensch, dass auch ich selbstbewusst und –bestimmt bin? Dass auch ich weiß, was ich will? Dass ich Veränderungen begrüße und mit gutem Gewissen und mit Freude das mache, was mir für meine Familie passend und (er)lebenswert erscheint? Dass ich in Übereinstimmung mit mir selbst – losgelöst von Erwartungen und Gepflogenheiten anderer – lebe? Aber wie nur? Da ich doch selbst so wohlerzogen bin, so geformt.
Stillemomente sind auf der Reise zu mir selbst von großem Wert. Im Alltag versuche ich immer wieder, das Dauerrauschen meiner Gedanken verstummen zu lassen und zu spüren, was gerade zu tun ist. Dafür ist es notwendig, dass mein Geist ruhig wird. Dass sich meine oft wild herumwirbelnden Gedanken wie herabfallende Blätter auf dem Boden niederlassen. Wenn sie dann still daliegen, kann ich klarer sehen. Und weise(re) Entscheidungen treffen. Vor allem in herausfordernden Momenten. Und davon gibt es im Leben ja bekanntlich genug. Früher spürte ich oft große Wut in mir, wenn etwas nicht so lief wie erwartet. Allmählich konnte ich dieses Gefühl immer öfter als Hilflosigkeit und Ohnmacht identifizieren. Und irgendwann begann ich, meine Gedanken und Gefühle im Stillen wahrzunehmen, innezuhalten und mir für meine Worte und Handlungen Zeit zu nehmen. Ein Geschenk der Praxis der Achtsamkeit. „Gelingt“ diese Klarheit immer? Nein, aber manchmal. Und das erweitert meine Möglichkeiten ungemein.
Die Klärung des Seins …
Als mein Sohn ein Jahr alt war, schenkte ihm eine Bekannten Mira Lobes Buch „Das kleine ICH-BIN-ICH“. Die gereimte, rhythmische Sprache mochte er bereits in diesem zarten Alter, natürlich auch
die Bilder. Das Buch berührte aber auch mich. Nicht nur, weil es Erinnerungen an meine Kindheit in meinem Geist auftauchen ließ. Es beschäftigt sich mit der Frage, die ich mir im Zusammenleben
mit meinem Sohn beinah täglich stelle: Wer bin ich eigentlich? Und wer ist mein Sohn? Wie möchte ich sein? Und wie möchte ich diesen mir anvertrauten kleinen Menschen begleiten? Die Aussage des
Buches ist klar: Definieren wir uns über andere, werden wir im Vergleich steckenbleiben, von ihrem Urteil abhängig und im Endeffekt nicht wir selbst sein. Die Wahrheit über uns ruht aber immer in
uns selbst. In jedem einzelnen Menschen.
Die Geburt eines Kindes birgt für mich die wunderbare Möglichkeit, den Weg zu sich selbst anzutreten. Ich habe vor allem durch meinen Sohn gelernt, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden, mich hinzusetzen und in mich hineinzuspüren. Dient es mir oder anderen, wenn ich mich anpasse, weil es oft der einfachere Weg zu sein scheint, weil die gewohnten Strukturen dadurch erhalten bleiben, weil ich dann mit niemandem anecke? Ist es hilfreich, an dem festzuhalten, was ich kenne, mich gegen Einsicht zu wehren und lieber „so zu bleiben, wie ich bin“? Sind wir Menschen nicht deswegen hier, um uns in unserem Menschsein weiterzuentwickeln; zu entdecken, dass es nie einen Zustand gibt mit der Beschreibung: „So, jetzt habe ich alles gelernt, jetzt bin ich fertig“. Sondern dass wir von Natur aus wissbegierige Wesen sind, die sich – wenn nicht unterbrochen, beurteilt oder gelenkt – eigeninitiativ und voller Elan in neue Abenteuer stürzen und lernen, lernen, lernen. Und leben, leben, leben.
Mein Sohn ist nicht nur ein Geschenk des Lebens an sich selbst, sondern auch ein Geschenk an mich. Die ich so oft mit vernebeltem Geist herumirre, nicht (mehr) so klar, frei und ungeniert sehen kann. Kinder können uns – sofern wir es zulassen – mit uns selbst (wieder) in Berührung bringen. Und zu simplen, aber bahnbrechenden Erkenntnissen führen: Ich muss nicht jemand anderer sein, um geliebt zu werden. Ich muss nicht gefallen, nicht beeindrucken. Es ist in Ordnung, so zu sein, wie ich bin. Ein ICH-BIN-ICH eben. Aufklärung bedeutet für mich nicht die Verherrlichung des Geistes, sondern sein Zur-Ruhe-Kommen, sein Aufklaren. Um anschließend Entscheidungen im Sinne meines Herzens treffen zu können …
Kommentar schreiben