Dieser Artikel ist erschienen in: "unerzogen" (tologo), Oktober 2019
Brauchen junge Menschen Drill und Bestrafung, um Motivation und Kompetenz zu entwickeln? Naomi Aldort sagt Nein. Denn Kinder haben den Wunsch zu wachsen von Natur aus in sich. Eltern tun gut daran, diesen Wesenszug – die Freude am Wachsen – wieder selbst in sich zu entdecken und ein Leben voll Leidenschaft und Begeisterung zu führen. Das schafft den optimalen Nährboden für die kindliche Entwicklung…
Eine Mutter wandte sich mit folgendem Anliegen an mich: “Ich verfolgte ein Interview auf CNN mit Amy Chua, Autorin des Buches “Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte (Englischer Originaltitel: “Battle Hymn of the Tiger Mother”). Amy Chua spricht darin über ihr Verständnis von guter Mutterschaft. Viele Menschen halten sie für gewalttätig; andere finden, dass sie sich so richtig für ihre Kinder ins Zeug legt. Ich bin durcheinander. Ich versuche auch, meinen Kindern das Beste zu geben. Wenn ich anders handle als diese “Tigermutter” (nämlich ohne Drill und Zwang), dann aus einem bestimmten Grund: Ich halte es für sinnvoller, wenn Kindern erlaubt ist, sich selbst zu entwickeln. Aber jetzt bin ich da nicht mehr sicher. Meine Kinder (15, 12 und 9 Jahre) gehen nicht zur Schule; sie zeigen keine besonderen Interessen in dem Sinn, dass sie für etwas “hart arbeiten” (wie z. B. das Erlernen eines Instruments). Vermissen meine Kinder vielleicht etwas? Ja, enthalte ich ihnen vielleicht sogar etwas Wichtiges vor, sodass sie sich später im Leben und in der Gesellschaft nicht zurechtfinden werden?”
Wahre Freiheit vs. “Alles ist möglich”
Ich kann die Bedenken dieser Mutter durchaus verstehen. Hier meine Gedanken dazu:
Jede Mutter würde sofort auf Kontrolle und Manipulation verzichten, wenn sie freundlichere Wege wüsste, ihre Kinder auf dem Weg zu liebevollen, freudvollen und erfüllten Erwachsenen zu begleiten. Ich bin davon überzeugt, dass auch Amy Chua es zu schätzen wüsste, wenn ihre Kinder ihren eigenen Leidenschaften folgten, und zwar ohne Unterdrückung. Dann bräuchte sie auch keinen Zwang mehr anzuwenden, nicht mehr zu schimpfen, zu drohen und ihr Zuhause in einen Kriegsschauplatz zu verwandeln (ihre eigenen Worte!). Aber: Sie weiß leider einfach nicht, dass das möglich ist …
Amy Chuas Erziehungsstil ist übrigens nicht neu. Es handelt sich dabei schlicht und ergreifend um autoritäre Erziehung und ist somit weltweit verbreitet. Viele Eltern, die mich um Hilfe fragen, versuchen, ihre Ängste, Depressionen und ihre Wut zu überwinden – Gefühle also, die alle aus einer autoritär geprägten Kindheit stammen. In ihrem Buch “Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst” beschäftigt sich die Autorin und Psychologin Alice Miller mit dem Leid jener Kinder, die von ihren Eltern massiv geformt wurden, weil diese sich mit den Lorbeeren der Kinder schmücken wollten und mussten.
Andererseits hat Amy Chuas Kritik an Eltern, die ihren Kindern in allen Bereichen freie Bahn lassen, auch etwas Wertvolles. Eltern sollten die Freiheit der Kinder nicht mit Nichtstun und Herumlungern verwechseln. Damit unterstützen sie die jungen Menschen nämlich nicht. Für ein liebevolles Leiten braucht es aber keine Kontrolle, keinen Zwang. Es ist möglich, Kinder großzuziehen, die aus sich selbst heraus nach Wachstum und Kompetenz streben. Tatsächlich liegt das einfach in ihrer Natur.
Warum Kontrolle verletzt
Wenn Eltern manipulativ agieren, entsteht zwangsläufig emotionales Leid bei den ihnen anvertrauten Kindern; egal ob das äußerlich sofort zu sehen ist oder nicht. Die Abhängigkeit von der Zustimmung der Eltern, die Angst, die Erwartungen der Eltern nicht zu erfüllen und dadurch deren Liebe zu verlieren – das alles sind Ursachen für Verwirrung, Depression, Selbstmordgedanken, Abhängigkeit, Unglücklichsein, der Unfähigkeit zu vertrauen, Aggression und Krankheit. Was Amy Chua betrifft, so setzt sie Erfolg mit Prestige gleich – im Gegensatz zu Freude und tiefer innerer Verbindung. Gefangen in ihrer eigenen Abhängigkeit von “Anderen-Gefallen-Wollen und -Müssen”, presst sie ihre Töchter in eine fertige Form; eine Form, die sie selbst – also die Mutter – gut dastehen lässt; ihre Töchter beraubt sie dabei aber der Möglichkeit, sie selbst sein zu können .
Eltern können allerdings ihre Kinder derart begleiten, dass sie nicht nur dem äußeren Schein nach erfolgreich sind, also oberflächlich; nein, Eltern können ihre Kinder so begleiten, dass sie fried- und freudvoll sind, auch in ihrem Innern – und somit tatsächlich erfolgreich. Dieser Weg schließt Zwang natürlich aus, ist allerdings voll brodelnder Leidenschaft und bedeutet ein tiefes Eintauchen in das Wunder des Lebens. Dieser Weg bedeutet außerdem, die Kinder zu beschützen: vor Kräften, die ihrer Freiheit, sich authentisch zu entwickeln und ihre Möglichkeiten zu entdecken, zuwiderlaufen …
Aber sie kuscheln doch so innig…
In dem CNN-Beitrag berichtete Amy Chua über ihre Drillmethoden beim Klavierspiel ihrer siebenjährigen Tochter Lulu: “Ich krempelte meine Ärmel hoch und ging zu Lulu. Ich verwendete jede Waffe, jedeTaktik die mir einfiel. Wir arbeiteten vom Abendessen bis spät in die Nacht hinein. Ich ließ weder zu, dass Lulu aufstand, um sich Wasser zu holen, noch dass sie ins Bad ging. Das Haus wurde zur Kriegszone, und meine Stimme verließ mich beim unablässigen Rumbrüllen; aber wir kamen einfach nicht voran. Da bekam sogar ich Zweifel. Dann, plötzlich, bekam es Lulu hin. Und sie strahlte vor Glück. In dieser Nacht kam sie in mein Bett, und wir drückten einander und kuschelten. Als sie wenige Wochen danach ihren Auftritt hatte, kamen die Eltern zu mir und sagten: “Was für ein perfektes Stück für Lulu, ganz ihres.”
Wenn ich diese Worte lese, erschaudere ich. Gleichzeitig sende ich dieser Mutter all meine Liebe, denn ich kann ihr verzweifeltes Bedürfnis nach Zustimmung und Anerkennung sehen. Leider missversteht sie den wahren Grund der Kuscheleinheit mit ihrer Tochter. Und sie wertet das Lob der Darbietung ihrer Tochter als ihre eigene Leistung: “Schaut mich an! Ich bin wirklich eine tolle Mutter, so wie sie alle meine Tochter loben.” Letztendlich leidet sie an derselben Abhängigkeit von Zustimmung, die sie so leidenschaftlich auch an ihre Tochter weitergeben wird. Was Lulu betrifft: Das arme Kind kuschelt mit ihrer Mutter so, wie es auch missbrauchte Kinder mit ihren Peinigern tun (ein bekanntes Phänomen). Sie kuschelt nicht aus Freude, sondern aus großer Erleichterung darüber, die Anerkennung der Mutter wiedergewonnen zu haben.
Lulu hätte natürlich das Stück ganz allein geschafft, in ihrem eigenen Tempo; und dabei hätte sie wahre Zufriedenheit erleben können. Sie hätte außerdem viel mehr gelernt, hätte sie ihre eigene Lernmethode entdecken und entwickeln dürfen (selbst, wenn das Monate später gewesen wäre). Was sie stattdessen lernte, ist: “Ich bin unfähig, diese Aufgabe allein zu bewältigen.” Viele Erwachsene erholen sich nie gänzlich von dieser Abhängigkeit, ihren Eltern gegenüber. Ja sie buckeln vor ihren Eltern, selbst wenn sie schon erwachen sind: “Meine Eltern haben so viel für mich getan, ich verdanke ihnen mein Leben, ich wäre nichts ohne sie.” Und dieses “Nichtssein” – das ist der Horror, der im Kind weiterlebt. Im Falle Lulus ist nicht einmal klar, ob sie das Klavierspielen überhaupt mag. Sie ist so damit beschäftigt, den Traum ihrer Mutter wahr werden zu lassen, dass sie ihre eigenen Wünsche völlig übersieht. Eines ist dabei gewiss: Sie wird ein folgsames, braves Schaf werden …
Wahre Tiger-Kinder
Ich denke, dass Eltern viel daran liegt, wahre “Tiger-Kinder” großzuziehen: Kinder, die in sich selbst verwurzelt sind und somit voll Kraft, Zufriedenheit und Selbstvertrauen. Um das zu “erreichen”, sollten Eltern ihre “Klauen” nicht zur Kontrolle und zum Zwang einsetzen, sondern zum Schutz des Kindes: zum Schutz des Kindes vor jedem Versuch, kontrolliert und manipuliert zu werden. Was Eltern also zu schützen haben, ist die Verbindung des jungen Menschen zu sich selbst. Sodass sie ihrer eigenen inneren Quelle vertrauen können, wie es auch Erfinder, Künstler, Freidenker tun. Wenn Eltern das gewährleisten können – diese Freiheit von Abhängigkeit, dann blühen Kinder so richtig auf. Dann gewinnen sie sogar Wettkämpfe (wenn das ihr eigener Wunsch ist!), und sie finden zu ihrer Freude zurück, selbst wenn sie nicht gewinnen.
Mein jüngster Sohn, Oliver, ist Cellist, Pianist und auch Komponist. Er gewann zahlreiche landesweite Wettkämpfe, spielte in der Carnegie Hall schon als Teenager, tritt im Radio und im Fernsehen auf, als Solist und auch mit einem Orchester, und wurde an einem der beiden besten Musik-Colleges der USA angenommen – mit 16 Jahren. Amy Chua würde es wohl nicht für möglich halten, dass dieser junge Mensch niemals gezwungen worden war; zu nichts, nicht einmal dazu, in die Schule zu gehen. So wie viele andere Freilerner auch, machte Oliver das alles um seiner selbst Willen, aus eigenem Antrieb.
Oliver wusste immer, dass ich an seinen Noten oder Erfolgen nicht interessiert bin. Ich erinnerte ihn sogar oft daran, dass er jederzeit mit der Musik aufhören kann; ja dass er letztendlich immer dann gewinnt, wenn er sich selbst treu bleibt. So wurde er nie abhängig vom “Gewinnen-Müssen” oder “Bester-Sein-Müssen”. Als er einmal zu einem nationalen Wettbewerb flog, fragte ich ihn, wie er sich denn fühle, wenn er die Bühne betritt. Er sagte: “Ich gehe da raus, um zu gewinnen. Doch egal, wie es ausgeht: Es ist in Ordnung.” Genau diese emotionale Freiheit half ihm, sowohl diesen Wettbewerb zu gewinnen, wie auch viele andere. Seine Brüder sind genauso erfolgreich an anderen Universitäten und in anderen Lebensbereichen. Ich bin sehr froh, dass sie ihr Leben nach ihrem inneren Maßstab ausrichten, mit keinerlei Druck zu gewinnen. Für mich sind ihre Noten und ihre Erfolge belanglos. Wichtig sind ihre innere Freude und ihr Frieden.
Fehlt den Kindern etwas?
Zurück zur anfänglichen Frage der Mutter, ob sie ihren Kindern vielleicht etwas vorenthält durch “nicht vorhandene Strenge”: Obwohl es nicht die Aufgabe von Eltern ist, ihre Kinder zu unterdrücken und sie zum Wettstreiten und Siegen zu animieren, so haben sie dennoch eine Aufgabe: und zwar den Boden, auf dem ihre Kinder wachsen und gedeihen, fruchtbar zu machen und ihre innere Freiheit zu verteidigen. Am besten ist es, wenn Eltern sich darüber im Klaren werden, was sie denn unter “freien Kindern” verstehen: Bedeutet es, einfach nichts zu tun, herumzulungern, sich für nichts zu begeistern? Ich empfehle Eltern, immer wieder zu überprüfen, ob die Umgebung ansprechend und inspirierend ist. In dem Sinn, dass das Kind gerne beitragen will, sich gerne ausprobieren will, gerne über sich selbst hinauswachsen will.
Alle meine Söhne streben nach guter Leistung, nicht, weil sie dazu gedrängt werden, sondern weil sie ein leidenschaftlich gestaltetes und gelebtes Leben erleben, in dem auch Anteilnahme sehr wichtig ist. Kinder saugen jede Meinung in sich auf, der sie ausgesetzt werden. Was sie erleben, ebnet den Weg ihrer Erfahrungen. Deshalb brauchen sie Schutz und eine Umgebung, die ihnen viele Möglichkeiten bietet. Man kann es mit dem Färben verschiedener Stoffe vergleichen: Egal, ob ein Kleidungsstück aus Seide oder Wolle ist – es bekommt schließlich die Farbe, in die es getaucht wird. Will heißen: Eine qualitative hochwertige Umgebung ist ebenso wichtig wie eine große Anzahl an Möglichkeiten, aus denen die jungen Menschen wählen können. Denn letztendlich werden sie eben genau die Farbe annehmen, in der sie baden: was soziale Entwicklung betrifft, künstlerische und jede andere auch.
Kinder wollen wachsen, über sich hinaus
Kinder bestehen darauf, Dinge wirklich gut zu machen: Sie verlieren völlig die Fassung, weil Mama den Käse schief geschnitten hat, weil die Socken nicht gleich sind, weil das Bild schief hängt … Kinder trivialisieren nicht. Nichts! Sie streben nach Perfektion. Warum also sie von dieser natürlichen menschlichen Qualität weglotsen? Ja warum sich als Eltern nicht eben diesem Wachstum verschreiben? Mehr Erfüllung springt in jedem Fall dabei raus.
Als meine Kinder klein waren und zum Beispiel Essen auf den Boden warfen (weil sie irgendetwas ausprobieren wollten und es immer und immer wieder versuchen wollten), stoppte ich sie nie. Ich wischte es einfach sofort auf, oder eben dann, wenn es für sie nicht mehr wichtig war. So lernten sie, dass es erstrebenswert ist, es ordentlich zu haben. Wenn ihre Haare über die Augenbrauen wuchsen, kürzte ich die Haare. Ich bot auch immer gut passende und schöne Kleidung an. Ich präsentierte das Essen in attraktiver Weise, und wir spielten und hörten die Musik nur der besten Komponisten. Kinder lernen dabei von ihren Eltern, Dinge, richtig gut zu tun und jeden Moment zu genießen, mit allen Sinnen. Kinder lernen dabei, Qualität zu schätzen. Und sie lernen von der Art und Weise, wie Eltern mit ihrer Kleidung umgehen oder die Pflanzen vor der Tür versorgen. All das zählt, und braucht nicht einmal Geld dafür.
In der heutigen westlichen Kultur werden gern Konzepte wie “alles ist ok, jeder ist gleich, nimm’s leicht, eh alles egal” großgeschrieben. Ja, natürlich ist es gut, Unterschiede lieben zu lernen und sich einen gewissen Sinn für Humor zu erhalten und ihn zu beleben. Aber Toleranz und Leichtigkeit stehen dem Bedürfnis nach Weiterentwicklung und Etwas-Erreichen-Wollen nicht entgegen. Es ist einfach eine menschliche Qualität, die wir nicht negieren können; ja wir sollten sie feiern, anstatt sie zu zu trivialisieren. Unerwähnt soll nicht bleiben: Es gibt natürlich immer Unterschiede. Manche Kinder oder Erwachsene haben einfach nicht so einen starken Antrieb in sich wie andere. Das ist völlig in Ordnung und eben deren Weg.
Wahre Freiheit, wahres Wachstum
Eltern können also der kindlichen Autonomie Respekt zollen, während sie gleichzeitig ein Umfeld und Leben anbieten, das die Qualität der Hingabe beinhaltet; eben Verbindung, klare Kommunikation, ein Streben nach Wachstum in dem künstlerischen Bereich, der uns interessiert uvm. Freiheit bedeutet nicht Vernachlässigung oder das Ausstellen eines Freibriefs, alles tun zu können und zu dürfen. Kinder haben nicht umsonst Erwachsene als Eltern. Nein, Kontrolle brauchen sie nicht, aber sie verlassen sich auf die elterliche Führung. Und das heißt: Die Eltern folgen der Richtung, die das Kind weist, und sie bieten eine Umgebung an, die es dem Kind gestattet, sich zu entfalten. Wenn Eltern spüren, dass alles, was sie tun zählt, dann tritt auch die Freude daran viel besser zutage …
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