Dieser Artikel ist erschienen in: "unerzogen" (tologo), 2019
Lesen zu können, gilt als eine der wichtigsten Fähigkeiten in westlichen Gesellschaften. Deshalb ist der Wunsch von Erwachsenen auch so stark, dass jeder junge Mensch die Lesekompetenz entwickelt. Und zwar möglichst früh. Naomi Aldort nimmt den Druck raus und sagt klar: Fuß weg vom Gaspedal! Mehr Geduld und Entspannung bitte. Denn: Ein später Lesebeginn bringt sogar Vorteile …
Ich habe mich immer gewundert über die Dringlichkeit, Kinder zum Lesen zu bewegen. Was ist der Sinn dahinter, ein bestimmtes Lese-Start-Alter vorzugeben? Wo ist das Vertrauen in die jungen Menschen, dass sie das, was sie brauchen, genau dann lernen, wenn sie dafür bereit sind? Was das Lesen betrifft, ist es sinnvoll sich zu fragen: Könnte es sein, dass das frühe Erlernen dieser Fähigkeit einige der vielen unglaublichen Fähigkeiten junger Menschen sogar beeinträchtigt, ja beendet? Ihr magisches Gedächtnis, ihr akkurates Gehör, ihre lebhafte Vorstellungskraft, ihre Erlebnisfähigkeit, ihre außergewöhnlichen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten?
Von Gedankenexperimenten und Vertrauen
Als Gedankenexperiment stelle ich mir manchmal vor, wie es wohl wäre, einen Menschen in seiner Entwicklung zu begleiten, der nie lesen lernt: Welchen Beitrag könnte und würde er wohl leisten mit seinem anders verdrahteten Gehirn – frei von der Abhängigkeit vom geschriebenen Wort? Was versäumen wir als Gesellschaft, wenn wir die kindliche Wahrnehmung der Welt unterbrechen durch diese Buchstaben-Fixierung? Ja, es könnte Erstaunliches zu Tage treten, könnten wir auch nur ein einziges Kind vom Lesen abhalten. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass ein solcher Mensch seinen Weg finden würde, und zwar ausgestattet mit Ideen, von denen wir mit unseren lesenden Gehirnen nur träumen können.
Natürlich aber hat Lesen auch etwas Magisches an sich: Es öffnet die Türen für die Entwicklung des Geistes und der Imagination. Allerdings: Was soll die Eile? Für viele Kinder gilt: Später ist besser! Es hat so viele Vorteile, wenn das Lesen zu einem eher späteren Zeitpunkt erlernt wird. Ich wäre hocherfreut, mehr Kinder zu sehen, die erst dann lesen lernen, wenn sie ihr aktuelles Gehirnpotential ausgeschöpft haben. Und dennoch gilt: Es gibt auch keinen Grund, Kinder – sofern sie es selbst wünschen und entwickeln – vom Lesen abzuhalten. Wir dürfen einfach jedem Kind vertrauen, dass es sich nach seinem inneren Plan entfaltet; so wie das auch jede Blume macht. Genau zum richtigen Zeitpunkt …
Die Diktatur der Schule und Gedankenerforschung
Die Angst, ein Kind könnte das Lesen nicht erlernen, resultiert aus dem Schulsystem; einem System, das davon ausgeht, dass junge Menschen kontrolliert und geformt werden müssten. Was Schule anbelangt, so geht es immer um die Kontrolle des Zeitpunkts und der Methoden. In der Schule wird Akademisches gelehrt; Fakten, sogenanntes Wissen. Aber kaum etwas, das die Entwicklung der Vorstellungskraft fördert, nichts das Musik, Kunst, Tanz, Theater, Spiritualität oder den Umgang mit Emotionen unterstützt. So “entstehen” dann Menschen, die trostlose Städte aus Beton errichten können; Menschen, die die geschichtlichen Daten sämtlicher menschlicher Greueltaten herunterbeten können; Menschen, die wunderbar intim mit ihrem Computer sind. Menschen allerdings, die keine Fähigkeiten besitzen, was Fühlen, Singen, sich wirklich Verbinden, Geben betrifft. Menschen, die nicht wissen, wie sie eine sinnvolle Elternschaft gestalten können, wie sie tanzen, meditieren, lieben können. Anmerken möchte ich: Entscheiden sich Eltern dafür, ihr Kind außerhalb des Schulsystems zu begleiten, ist es ihre Aufgabe, das Kind vor sämtlichen schulischen Konzepten zu schützen.
Wenn wir einem erwachsenen Menschen begegnen, wird niemandem auffallen, ob dieser mit vier Jahren oder mit 14 das Lesen erlernte. Lesebesorgten Eltern stelle ich gern folgende Fragen: Wer wärst du, wenn du den Wunsch, dass dein Sohn/deine Tochter genau jetzt das Lesen erlernt, nicht hättest? Wenn du frei und unbeeindruckt wärst von den Erwartungen und zeitlichen Vorgaben von Menschen, die dein wertvolles Kind nicht mal ansatzweise persönlich kennen, ja nichts über es wissen? Wenn du jeden Moment wertschätzen könntest, in dem sich dein Kind seinen “lesefreien” Geist, seinen “lesefreien” Blick auf die Welt noch erhalten hat?
Menschen lernen zum für sie richtigen Zeitpunkt
Der russische Dichter Hayim Nahman Bilalik (1873-1934) erinnert sich an seine scheiternden Versuche, das Lesen in der Schule zu erlernen. Seine Lehrer zeigten ständig auf Buchstaben, testeten sein Wissen; aber alles, was er sehen konnte, waren Bilder seiner eigenen Vorstellungskraft. Jeder Buchstabe sah für ihn wie etwas aus, das er im wirklichen Leben gesehen hatte. Er sah also keine Buchstaben, sondern Zeichnungen; und er schaffte es nicht, seinen Geist so umzustellen, dass dieser etwas Anderes, nämlich eben Buchstaben, erkennen konnte. Wenn er gefragt wurde, welchen Buchstaben er sähe, antwortete er zum Beispiel: “Eine Person, die zwei Körbe trägt.” Oder welches Bild er auch immer gerade vor seinem geistigen Auge hatte. Nur ein paar Jahre später hätte dieser intelligente junge Mann mit Leichtigkeit, Freude und innerhalb kürzester Zeit das Lesen erlernt.
Es sind immer die jungen Menschen selbst, die den optimalen Zeitpunkt kennen. Aufgabe der Eltern ist es lediglich, die Verbindung der Kinder zu sich selbst zu erhalten, sodass sie auch wirklich ihrem inneren Plan folgen können. Was ein Kind allerdings abhält von der ihm eigenen optimalen Entwicklung, sind Erwartungen, Lob oder andere Ablenkungen, die es von sich selbst und seinem Vertrauen in sich selbst entfremden. Ich rate daher immer: Bieten Sie an, nähren Sie Ihr Kind, aber fordern Sie nichts.
Legasthenie und andere Folgen
Damit die Entwicklung der Lesefähigkeit überhaupt einmal einsetzen kann, sind bestimmte Gehirnentwicklungen sowie körperliche und emotionale Komponenten Voraussetzung. Ein Bespiel: Wenn die Augen des Kindes noch nicht ausgereift sind, es aber zum Lesen gedrängt wird, kann das zu völlig unnötigem Brillentragen führen: Das Kind strengt seine Augen beim nicht selbst gewählten Leseversuch übermäßig stark an, hat außerdem Angst, den elterlichen Erwartungen nicht zu entsprechen. Ergebnis: verschwommenes Sehen. Was tun Eltern dann? Sie suchen mit dem Schützling einen Augenarzt auf, wo dieser erneut getestet wird. Die Buchstaben, die er erkennen soll, verschwimmen ihm vor den gestressten Augen. Und schon ist er zum Brillenträger geworden. Was seine Sehkraft natürlich weiter verschlechtert.
Auch das Lesenlernen vor der Entwicklung der Fähigkeit, Richtung und Ordnung zu begreifen, verursacht großen Schaden. Beispiel: Für ein Kind ist ein Hund ein Hund, egal in welche Richtung dieser schaut. Seine Spielsachen erlebt es als immer dieselben, unabhängig davon, in welcher Reihenfolge es sie vorfindet. Eine spezielle Anordnung, eine bestimmte Richtung haben für ein Kind lange Zeit keine Bedeutung: Die Dinge bleiben dieselben, egal, ob sich deren Standort verändert oder die Richtung, in welche sie blicken. Wenn ein Kind also lesen lernen soll, bevor sein Gehirn diese Fähigkeit der Strukturierung ausgebildet hat und wenn zusätzlich die Augen noch nicht bereit sind, kann es zu dem kommen, was als Legasthenie bezeichnet wird.
Kinder sind außerdem sehr lange Zeit auf Fühlen, auf Spüren fokussiert. Auf große Bewegungen, auf Bilder. Das Lesen kann diese inneren Prozesse des Kindes stören und durcheinanderbringen. Die erstarrte Form des geschriebenen Worts widerspricht der kindlichen Verwendung seiner Sinne. Ein Kind, das zum Lesen gedrängt wird, unterbricht seine “magische Ausrichtung” und wechselt automatisch zu jener Gehirnaktivität, die Voraussetzung fürs Lesen ist. Mit anderen Worten: Ein solches Kind stellt sich völlig um – geistig, emotional und sogar körperlich. Und das nur, um elterlichen Erwartungen zu entsprechen. Feststeht: Wenn wir das Kind aus seiner eigenen Wahrnehmungswelt herausreißen, um ihm unsere eigene aufzudrücken, geht etwas verloren! Der größte Verlust ist in jedem Fall das Gefühl des Kindes, dass es sich auf sich selbst verlassen kann, dass es sich selbst in seiner Entwicklung vertrauen darf.
Manche früher, manche später
Es gibt auch Kinder, die zu einem sehr frühen Zeitpunkt zum Lesen bereit sind. Einer meiner Söhne brachte sich das Lesen von Musiknoten und der englischen Sprache im Alter von vier Jahren bei. Er war ein “geborener Intellektueller”. Schon als Kleinkind “studierte” er. Fürs Klettern dagegen interessierte er sich kaum, auch wenig für Spielplätze oder Vergnügungsparks. Sein jüngerer Bruder war überall “dran”, während er meist mit mir wartete. Ich las ihm jedenfalls weiterhin vor, obwohl er es selbst konnte. Mein dritter und jüngster Sohn dagegen war mit dem Lesen viel später dran. Aber bis zum heutigen Tag kann ich nicht sagen, wann und wie er es sich beigebracht hat. Ich war jedenfalls nicht eingebunden.
Übrigens: Ein Kind, das “noch” auf ein Geschwisterkind eifersüchtig ist, das mehr Zeit mit seiner Mama braucht, das noch nicht allein spielt, ist definitiv auch noch nicht bereit fürs Lesen!
Seine eigene Methode entwickeln
Wenn Kinder das Lesen in ihrem eigenen Tempo, auf ihre Weise erlernen, dann erlernen sie dabei letztlich viel mehr als das Lesen: Sie entwickeln und erfinden dabei ganz automatisch eine ganz spezielle, eine eigene Lernmethode. Der Prozess, der durchlaufen wird, um etwas zu verstehen, zu begreifen, ist viel wichtiger und wertvoller als das, was letztendlich dabei gelernt wird! Wenn wir also ein Kind im Lesen unterrichten, liegen wir höchstwahrscheinlich nicht nur beim “richtigen Zeitpunkt” daneben, sondern nehmen ihm auch die Möglichkeit, seine eigene Methode zu entwickeln. Wir untergraben dabei nicht nur einen phänomenalen Gehirnentwicklungsschritt, sondern auch die Entwicklung von Selbstvertrauen. Und: Wir erschweren den Leseprozess oft sogar durch eine von uns ausgewählte Methode, die dem Lerntyp des Kindes einfach nicht entspricht.
Es ist eine Tatsache: Ein Kind, das aus Erfahrung weiß, dass es alles selbstständig erlernen kann, wird für den Rest seines Lebens vertrauensvoll und leicht lernen. Sein Geist entwickelte nämlich keinerlei Angst, irgendetwas nicht aus eigenem Antrieb erlernen und schaffen zu können. Die Verbindung zu sich selbst, zur eigenen Quelle, blieb erhalten.
Was wir Erwachsene nie vergessen sollten: Wenn ein Kind den Zeitpunkt erreicht hat, zu dem es von sich aus lesen lernen will (und der Zeitpunkt kommt!), kann es von niemandem daran gehindert werden! Die Idee, die ich eingangs hatte – also ein Kind in der westlichen Gesellschaft aufwachsen zu lassen, ohne dass es lesen lernt – ist demnach völlig utopisch. Genauso wenig, wie wir ein Kind davon abhalten können, sprechen zu lernen, können wir das Lesenlernen stoppen. Es ist schlicht und ergreifend unmöglich. Wir können den Lernwillen nicht aufhalten! Wir können einfach nur staunen und dem uns anvertrauten jungen Menschen ehrfürchtig zuschauen …
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