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No easy walk to peace – oder doch?

Dieser Artikel ist erschienen in: "Mit Kindern wachsen", 2018, Arbor

Seit ich Mutter bin, lebe ich bewusster. Ich nehme mich und meine Reaktionen aufmerksamer wahr. Frieden finden und geben – auch in Zeiten mit hohem Wellengang: Das wurde zu einem meiner zentralen Anliegen in den vergangenen fünf Jahren. Der Weg zum Frieden verläuft aber nicht ganz einfach. Zumindest nicht, solange ich mir selbst im Weg stehe. Es wird leichter, wenn ich einen Schritt beiseite trete. Wenn ich mich von der Stelle löse. Wenn ich gehe. Dann kommt etwas in Bewegung …

 

Ich entrümple. Unter anderem durchstöbere ich meine Schulsachen. In einem Deutschheft finde ich folgenden Text. Ich war damals dreizehn Jahre alt:

 

„Friede ist für mich, wenn Menschen nicht streiten. Wenn sie einfach Freude miteinander haben und ihre unterschiedlichen Vorzüge schätzen. Friede ist für mich auch, wenn Eltern miteinander gut auskommen, ihre Kinder lieben und viel Zeit mit ihnen verbringen. Wenn sich die Familie füreinander einsetzt, und wenn gegenseitiger Respekt herrscht. Frieden ist für mich auch, wenn es auf der Welt keine Kriege mehr gibt, wenn die Minenproduktion eingestellt wird, wenn keine Atombomben mehr gebaut und abgeworfen werden. Wenn die verschiedenen Völker dieser Welt respektiert werden, wenn es keine Vorurteile gibt. Wenn die Länder miteinander- statt gegeneinander arbeiten. Wenn der ständige Kampf, wer besser ist, abgeschafft wird. Wenn die Umwelt geschützt anstatt zerstört wird. Friede ist für mich, wenn für alle Geschöpfe Platz ist.“

 

Nachdem ich die Zeilen gelesen habe, erinnere ich mich an die dazugehörige Szene damals im Klassenzimmer. Die Lehrerin bat mich, meinen Text vorzutragen. Ich wollte nicht und tat es höchst unpathetisch und unengagiert. Dafür erntete ich ihr Kopfschütteln und Unverständnis. Ich nahm es persönlich. War verärgert. Von Frieden in mir keine Spur.

 

Heute, fast ein Viertel Jahrhundert später, ist es oft ähnlich mit meiner Friedensfähigkeit bestellt. Immer wieder tappe ich in die Falle und nähre jene Qualitäten in mir, die mich vom Frieden eher entfernen, als mich ihm näherzubringen. Ich ärgere mich, fahre mich fest, werde unbeweglich. Dennoch kann ich auch erkennen, dass ich bereits kleine Schritte in Richtung Frieden gemacht habe. Oft angeleitet durch meinen kleinen Sohn. Seit er in mein Leben trat, kann ich Reinhard Meys Lied-Zeilen mit bestem Gewissen unterschreiben: „Ich frag‘ mich seit ner Weile schon, wer gibt hier wem eine Lektion, wer gibt hier wem im Leben Unterricht? Ich dachte ja bisher, dass ich derjen’ge welcher wär‘. Nun merk‘ ich mehr und mehr, ich bin es nicht.“ Ich durfte wirklich schon viel durch diesen jungen Menschen an meiner Seite lernen. Durfte gründlich in den Spiegel schauen. Durfte langsamer werden, durfte weniger wollen, mehr zulassen. Loslassen … wie oft habe ich das schon gehört, gelesen. Fast zu oft. Und dennoch denke ich, dass gerade darin ein wirksamer Weg  in Richtung Frieden liegt.

 

 

 

Ein Ort ohne Angst und Verlangen

 

Wie wohl in allen Familien läuft es auch in der meinen nicht ohne Reibung. Gerade im Kontakt mit meinem Sohn flogen oft meterhohe Funken. Immer mehr durfte ich allerdings erkennen: Es liegt an mir. Oder anders: Ich habe es in der Hand, wie ich reagiere; von mir hängt ab, in welche Richtung es weitergeht. Die Praxis der Achtsamkeit hat mir sehr geholfen. Überhaupt die Auseinandersetzung mit Buddhismus und Christentum. Eine gemeinsame Message dieser Religionen ist zum Beispiel: „Lass dich los. Nimm deine kleinen, fixen Ideen nicht so ernst. Mach dich frei.“ Der vietnamesische Zen-Meister und Friedensaktivist Thich Nhat Hanh sagt: „Wenn es schwierig wird, ziehen Sie sich zurück und lassen den Buddha Ihren Platz einnehmen.“ Mit anderen Worten: „Hör auf, eine Lösung herbeizuführen. Hör auf zu glauben, dass du wissen musst, was nun zu tun ist. Hör auf, kontrollieren zu wollen, nach deinen Vorstellungen. Sei einfach. Und beobachte, was geschieht.“ Letztendlich ist der Buddhismus eine Anweisung zur Befreiung von Konzepten. Von Glaubenssätzen wie „so ist das“ bzw. „so muss es sein“. Thich Nhat Hanh empfiehlt, sich einen Zettel mit folgenden Worten an den Kühlschrank zu hängen: „Kannst du sicher sein?“. Als Erinnerung ans Loslassen von Überzeugungen, gerade wenn die Situation verfahren scheint.

 

Mit meinem Sohn erlebe ich das immer wieder. Wenn ich es schaffe, vom Zweifeln und Steuern-Wollen zum Lächeln und schlichten Wahrnehmen zu wechseln, ist alles gut. Wenn ich mich in herausfordernden Momenten daran erinnere, dass der Himmel immer noch über mir ist und die Erde immer noch unter mir, wenn die Hilflosigkeit weicht, dann folgt Erleichterung. Mein Herz wird freier. Weniger gebunden, verstrickt. Wacher. Hingebungsvoller. Thich Nhat Hanh sagt: „Ohne Sorgen, ohne Angst, sind wir frei, jeden Augenblick unseres Lebens zu genießen. Wir genießen unser Atmen, unser Lächeln, unser Gehen, und die Einsichten stellen sich einfach ein; Verstehen kommt von selbst.“ Ähnlich formuliert auch der bekannte christliche Theologe Jörg Zink: „Eine christliche Anleitung zum Leben hat die Aufgabe, vor allem auch vom Lassen zu sprechen, nachdem Vieles getan ist. Die Arbeit hat einen begrenzten Sinn. Auch der Kampf ums Überleben ist in Grenzen sinnvoll. Danach aber geht es um die Freiheit. Ums Sein. Je mehr dieses Lassen Raum gewinnt, umso größer wird die Freiheit in der Welt. Sein Sinn ist es, dass wir beginnen, jede Art Herrschaft von Pflichten, Werten oder Vorschriften hinter uns zu lassen. Hin zum: Ich will nichts. Ich plane nichts. Ich eile nicht. Ich bin gegenwärtig. Ich ruhe in der Ruhe Gottes. Was durch mich geschehen soll, kommt aus seiner Kraft. Gott ist alles. Er ist alles auch in mir. Das ist genug. Und damit ist alles gut.“ Wir alle tragen diesen friedvollen Ort in uns. Nur müssen wir den Zugang finden. Und offenhalten.

 

 

 

These feet are made for walking

 

Eine leicht umsetzbare Möglichkeit fürs Loslassen sind unsere Füße. Das Gehen: Sowohl im Buddhismus als auch im Christentum ist es mit Befreiung und Reinigung assoziiert. Jesus lebte als Wanderprediger, ohne festen Besitz. Auch Buddha wanderte durch die Lande. Thich Nhat Hanh schreibt über das Gehen Folgendes: „Was sehen wir, wenn wir unseren Fußabdruck betrachten? Wir sehen den Abdruck der Freiheit, den Abdruck der Festigkeit, des Glücks, des Lebens. Ich bin sicher, dass Sie einen solchen Schritt machen können, denn es gibt einen Buddha in Ihnen. Die Fähigkeit, wahrzunehmen, was geschieht. Nämlich: ‚Ich bin lebendig, ich mache einen Schritt.‘ Es ist leicht. Sie atmen, Sie gehen. Auf diese Weise wird jeder Augenblick zu einem Wunder. Um damit aber in Berührung kommen zu können, brauchen wir Achtsamkeit. Als Schlüssel zur Befreiung von Sorgen und Ängsten.“

 

So wie das Atmen ist das Gehen ein direkter Weg ins Hier und Jetzt. Den Boden mit einem Fuß berühren, und ihn dann wieder loslassen. Bis der nächste Schritt folgt. Und immer so weiter. Begegnung und Verabschiedung. Leben und Sterben. Gehen symbolisiert das Leben, das Vergängliche. Den Moment. Und die Veränderung von Moment zu Moment. Gehen kann uns zu diesem Ort bringen, an dem es weder Angst noch Verlangen gibt. Keine Fixierung. Nur Friede.

 

 

 

Pontifex moments

 

Immer wieder staune ich über die Friedfertigkeit meines Sohnes. Über das Nicht-Vorhandensein von Konzepten. Wie zum Beispiel Nachtragend-Sein. Als mein Mann letztens auf ein Anliegen unseres Sohnes nicht sehr feinfühlig reagierte, fühlte ich in Hals und Herz einen Knoten: Wie kann er nur. Er sollte doch …Während ich noch mit der Reaktion meines Mannes haderte, trat mein Sohn schon an denselben heran mit den Worten: „Komm. Ich lade dich ein, mit mir zu spielen.“ Eine freundliche Einladung. Wie sie auch Jesus viele Male ausgesprochen hat, wenn er zum gemeinsamen Essen, zum Zusammensein aufrief. Ohne Bewertung der Vorgeschichte der Gäste. Ausgerichtet auf das Hier und Jetzt. Eine Brücke der Liebe. Ein Schritt  auf den anderen zu. Ohne Anstrengung. Ich staune. Und merke, wie sich der Krampf in meiner Brust löst. Dann breitet sich in mir ein Lächeln aus. Zunächst vorsichtig, dann überströmend. Ja, Friede ist wirklich möglich. Wir müssen uns nur dafür entscheiden. Die Möglichkeit besteht, in jedem Moment.

 

Solche Erfahrungen helfen mir auch, mit dem Unfrieden in dieser Welt halbwegs klarzukommen. Wenn ich zum Beispiel über den Bürgerkrieg in der Republik Kongo lese, bei dem Menschen für den Abbau von Bodenschätzen ausgebeutet und misshandelt werden (unter anderem, damit hier jeder ein Handy sein Eigen nennen kann), bin ich betroffen, werde ich unruhig. Ich spüre Wut. Und Hilflosigkeit. Muss ich nicht etwas dagegen tun? Kann ich etwas tun? Ich bin so weit weg. Und ich habe doch meine eigenen Herausforderungen zu bewältigen. Kann ich mich da auch noch um den Weltfrieden kümmern? Ich habe herausgefunden: „Yes, I can.“ Und zwar, indem ich bei mir beginne. Und bei dem, was in Reichweite ist. Hier kann ich üben, hier kann ich mit dem Frieden-Streuen anfangen. Und dadurch die Hoffnung leben lassen: Die Samen des Friedens werden sich verbreiten. Gemeinsam mit jenen, die andere Menschen säen. Bis sie schließlich auch in Afrika und der restlichen Welt landen.

 

 

 

Step by step

 

Zu meinen Friedensgedanken als Teenager würde ich aus heutiger Sicht hinzufügen:

 

Friede ist für mich ein Prozess. Weg vom Anhaften, vom Rechtfertigen, vom Verteidigen. Hin zum Vertrauen. Zum Vertrauen in mich, dass ich die Fähigkeit zum Frieden in mir trage. Und zum Vertrauen in ein Geführtsein. Alles hat einen Sinn. Ich muss jetzt nicht alles wissen. Sondern ich darf probieren, lernen. Leben, vom Jetzt zum Nach-Jetzt zum Nach-Jetzt usw. Schritt für Schritt. Frei von Vorurteil, frei von Angst.

 

Gelingt mir das immer? Natürlich nicht. Oft nicht mal ansatzweise. Aber es ist sehr wohltuend für mich zu wissen, dass es Wege zu meinem inneren Frieden gibt. Dass es Mittel in mir gibt. Jederzeit und unerschöpflich verfügbar: lächeln, atmen, gehen. In diesem Sinne werde ich mir nun Tina Turners befreiende Liedzeilen zu Gemüte führen: „I don’t care who’s wrong or right, I don’t really wanna fight no more. It’s time for letting go.“ Kein Kampf. Kein Rechthaben. Loslassen. Danach werde ich barfuß durch das Zimmer gehen. Den Fliesenboden unter meinen Sohlen spüren. Einfach gehen. Und dabei meinen persönlichen Friedensabdruck hinterlassen. Gleichermaßen erstaunt und erfreut über die Tatsache, dass ich dazu wirklich fähig bin: zum Peace Walk.

 

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