Dieser Artikel ist erschienen in: "unerzogen" (tologo), Juni 2019
Eine Klientin kam mit folgendem Anliegen zu mir: „Ich kann meine Kinder (13, 10 und 7) für nichts Sinnvolles begeistern. Ich stelle eine „anregende Umgebung“ her, biete Aktivitäten in der Natur an. Aber es interessiert sie nicht. Alles, was sie wollen, ist zu spielen. Nichts, was ich anbiete, scheint ihr Interesse zu wecken. Sie wollen keine Baumnamen kennen, keine Seen, keine Berge, nichts. Woran liegt es? Und wie werden sie etwas lernen?“ Eine andere Mutter kam mit dieser Geschichte zu mir: Sie holte ihre beiden Kinder bei ihrem erwachsenen Freund David ab. Die Kinder erzählten ihr, dass David aus dem Essen eine Lehrstunde gemacht hatte und wie unmöglich sie das fanden. Ihr Sohn hatte sich unter den Tisch verkrochen, um sein Desinteresse zu verbergen und David „seine Show zu lassen“. Der Sohn sagte zur Mutter: „David erzählte irgendetwas über Reisanbau in China. Er hatte einfach den Drang, uns zu belehren. Also warteten wir, bis er es erledigt hatte; dann konnten wir essen.“
Ich finde das Verhalten dieses Jungen sehr großzügig und einfühlsam: Er hatte begriffen, wie wichtig es für David war, eine Lehrstunde abzuhalten, und er fand seine persönlichen Weg, Davids Enthusiasmus nicht lächerlich zu machen.
Belehrungsdrang ist ansteckend
Ich bezeichne den Drang, (be)lehren zu wollen – und die meisten Erwachsenen sind davon betroffen – als „Belehreritis“. Es handelt sich dabei um das dringende Verlangen, Lektionen zu erteilen. Diese „Krankheit“ ist nicht heilbar. Noch dazu ansteckend. Und lässt sich nicht durch Händewaschen und ein bisschen Vitamin C verscheuchen. Eltern können allerdings die Symptome in den Griff bekommen, sodass ihre Kinder verschont bleiben. Zum Beispiel können sie ihr Lehr-Bedürfnis in einem anderen Rahmen, wie in einer Bildungseinrichtung, ausleben.
Auch meine Eltern, beide, waren von der „Krankheit“ geplagt. Und sie haben sie mir weitergegeben. Das passiert einfach durch Nachahmung. „Lass mich dir mal erklären, wie das funktioniert“, pflegte mein Vater zu sagen, und ich musste still zuhören, bis er fertig war. Ja, ich unterrichte auch gern, aber: Ich belehre nicht meine Kinder. Ich bin mir nämlich im Klaren darüber, dass meine Leidenschaft, etwas zu lehren, nicht das Geringste mit ihren Bedürfnissen oder Vorlieben zu tun hat. Warum sollte ich ihre magische Erkundungsreise auf diesem Planeten mit meinem Geplapper stören? Wenn ich das einmal vergesse und ungefragt zu erklären beginne, stoppen mich meine Kinder in der Sekunde – und zwar ohne Umschweife. Ich freue mich darüber, dass sie so klar und bestimmt sind.
Mit „Belehreritis“ umgehen lernen
„Belehreritis“ ist an sich einfach zu handhaben – ohne dass „es die eigenen Kinder abbekommen“. Es gibt viele harmlose Möglichkeiten, diese Leidenschaft auszuleben: Ich schreibe zum Beispiel Artikel oder halte Vorträge für all jene, die sich freiwillig und bewusst dafür entscheiden. Es ist nämlich absolut in Ordnung, gern zu lehren und zu unterrichten. Wichtig ist allein, das „passende“ Publikum zu finden; dann steht dem Genießen nichts im Weg, und es werden zwei Fliegen mit einer Klatsche geschlagen: Der, der gern unterrichtet, befriedigt so sein Bedürfnis; und die, die gern zuhören, profitieren von dessen Wissen. Natürlich können Eltern ihre Gedanken und Ideen auch einfach für sich aufschreiben. Oder in einem Blog veröffentlichen und zur Diskussion stellen, wie es heute ja auf einfache Weise möglich ist.
Eltern haben oft den Impuls, ihre Kinder in ihren Tätigkeiten zu unterbrechen, weil sie gerade Wissen anbringen möchten. Um diesen Impuls zu stoppen, hilft es, sich zu fragen, ob die Unterbrechung wirklich angebracht ist. Ich möchte an dieser Stelle deutlich machen: Ich kann den Wunsch, sein Wissen weiterzugeben, sehr gut nachvollziehen! Nur wollen Kinder das einfach nicht haben. Und das ist wirklich ganz wunderbar. Sie wissen selbst nämlich sehr genau, was für sie wertvoll ist; und was eben nicht. Denn Menschen lernen vom Leben, nicht durch Manipulation.
Notwendiger Gedanken-Check der Eltern
Meistens sind es die Gedanken in ihrem Kopf, die Eltern geradezu zum Belehren drängen. Obwohl ihre Kinder eben gar nicht danach gefragt haben. Hier ein paar Beispiele für Gedanken, die Eltern zum ungebetenen Lektionen-Abhalten „treiben“:
„Mein Kind zeigt Interesse an diesem Gebiet; es stellt mir Fragen. Es will also mehr wissen.“
Bedeutet eine aus Neugier gestellte Frage automatisch, dass das Kind eine gesamte Lektion erhalten will? Nein, natürlich nicht. Deshalb rate ich Eltern: Bringen Sie sich selbst dorthin, dass Sie ausschließlich jene Frage beantworten, die wirklich gestellt wurde. Ein Beispiel: Auf die Frage „Wie entsteht Hagel?“ könnte die Antwort ganz simpel lauten, dass der Regen in der Luft gefriert. Wenn das Kind wirklich mehr dazu wissen will, wird es fragen. Und wenn Sie dem Kind mitteilen wollen, dass es dazu noch mehr Information gibt, können Sie ergänzen: „Ich habe ein Buch darüber. Bitte frag einfach, wenn du mehr wissen willst. Wir können auch im Internet danach suchen, wenn du es wünschst.“ In den meisten Fällen ist es so, dass ein Kind die Mehrinformation ablehnt, sofern es sicher sein kann, dass Ablehnen in dieser Familie eine Möglichkeit ist. Die vielen Interessen von Kindern sind nur selten auch ihre wirklichen Leidenschaften; sie sind oft flüchtig, und deshalb wollen Kinder auch nur die minimale Antwort; und eben keinen Vortrag. Wenn es sich tatsächlich um die große Leidenschaft des Kindes handelt, werden die Eltern das ganz leicht bemerken. Selbst wenn das Kind weitere Informationen anfordert, ist es wichtig, auf den Grad des Interesses einzugehen und nicht übers Ziel hinauszuschießen. Ich rate Eltern, sich jederzeit von ihrem Kind stoppen zu lassen und der Versuchung zu widerstehen, das Kind mit dem eigenen Wissen oder gar der eigenen Weisheit zu überschütten.
„Mein Kind wird nichts lernen, wenn ich es nicht unterrichte.“
Ich weiß, dieser Gedanke ist sehr laut und sehr stark. Aber in Wirklichkeit ist es wohl genau umgekehrt: Das Kind wird dann nichts lernen, wenn die Eltern mit ihren ungefragten Lektionen seine Zeit stehlen. Der junge Mensch lernt am besten, wenn Eltern nicht hineinfunken mit ihren Belehrungen. Außerdem versäumen Eltern dabei die Möglichkeit, den ganz individuellen Lernweg ihres Kindes zu würdigen. Und von ihrer „Belehreritis“ werden sie durch derartige Gedanken auch nicht geheilt. Kinder gehen ihren eigenen, ihren authentischen Weg; nämlich jenen, der in ihnen angelegt ist; und sie lernen dabei, ihr Lernen selbst zu lenken. Kinder lernen einfach durch das Leben, und sie suchen sich, was sie brauchen genau dann, wenn es für sie von Wichtigkeit ist.
„Mein Kind muss doch lernen zuzuhören, auch wenn es nicht am Inhalt interessiert ist.“
Warum bitte? Wollen wir wirklich unsere Kinder verletzen, nur damit sie lernen, mit Leid umzugehen? Sollen wir sie respektlos behandeln, damit sie lernen, mit Respektlosigkeit klarzukommen? Also ich sehe nicht die geringste Notwendigkeit dafür, negative Erlebnisse zu kreieren, um Kinder auf „schwierige“ Erfahrungen vorzubereiten. Auch wenn Herausforderungen ein wertvoller Teil des Lebens sind, müssen wir als Eltern diese nicht künstlich erschaffen. Was ist also zu tun? Dem Kind vertrauen und das Leben Lehrer sein lassen! Und sich ehrlich die Frage stellen: Warum sollte sich mein Kind etwas widmen, an dem es nicht interessiert ist? Das machen wir als Erwachsene doch auch nicht. Ich erinnere mich daran, dass ich unaufmerksam war, als mir einer meiner Teenager-Söhne etwas erzählte. Er unterbrach und sagte ruhig: „Weißt Du, Mama, wenn mich etwas nicht interessiert, dann sage ich es einfach. Du musst nicht zuhören. Sag einfach Bescheid.“ Er war nicht verärgert; er wollte einfach, dass ich ehrlich bin. Ja, letztendlich sind unsere Kinder die Lehrer; und wir Eltern haben zu lernen.
„Als Eltern von Homeschoolern müssen wir doch jede Gelegenheit, unseren Kindern etwas beizubringen, am Schopf packen.“
Ich schlage vor, diesen Gedanken umzudrehen: Als Eltern müssen wir jede Gelegenheit nutzen, von unseren Kindern zu lernen. Und zwar zum Beispiel: authentisch zu sein, zu spielen, glücklich zu sein, ehrlich zu sein, sich zu verbinden, sich auszudrücken, loszulassen, sich dem Flow anzuvertrauen. Diese Qualitäten sind gewiss wertvoller für Eltern und Kinder als mit unzähligen Enzyklopädien vollgestellte Regale. Davon bin ich überzeugt.
„Wissen ist wichtig.“
Also dass Wissen einen Wert hat, erscheint uns logisch; und zwar genau bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir als Erwachsene versuchen, all die wertlosen und beschränkenden Informationen in unseren Köpfen wieder loszuwerden, ja das ständige Geplapper unserer Gehirne zu stoppen. Ich sage nicht, dass Wissen keinen Wert hat. Aber was für ein Kind von Wert ist, wird ihm von seinem eigenen Kopf diktiert. Und den besten Zeitpunkt für neue Informationen, den kennen die Kinder selbst: Das ist schlicht und ergreifend immer dann, wenn sie dafür bereit sind. Als Eltern können wir Wissen anbieten, ja. Aber im Anschluss sollten wir einfach vertrauensvoll folgen, statt die Kinder bewusst in eine Richtung zu lenken. Junge Menschen lernen immer das, was sie brauchen; und sie übergehen das, was sie eben nicht brauchen. So wie es bei Erwachsenen auch ist. Es ist nicht die Aufgabe von Eltern zu entscheiden, was für einen anderen Menschen von Wichtigkeit ist. Als Eltern können wir Möglichkeiten eröffnen; und wir können Lebens- und Lernfreude durch uns selbst vorleben. Das ist die eigentliche Aufgabe.
„Wissen macht
glücklich.“
Wirklich? Was bringt einem das Wissen darüber, wie Reis wächst, wenn man keine Ahnung davon hat, glücklich zu sein? Was Kinder brauchen, ist das Wissen um die Fähigkeit zum Glück, zur Freude, zur Dankbarkeit. Wenn Kinder das „beherrschen“, dann gibt es nichts, was sie nicht lernen könnten. Menschen, die mit sich selbst in Frieden sind, suchen sich ihr Wissen schon; und zwar dann, wenn es für sie von Relevanz ist. Wenn Eltern also in Frieden damit sind, dass ihre Kinder einfach spielen und dadurch lernen, ist der wichtigste Schritt geschehen. Der Schritt zur Freude. Wissen kann natürlich nützlich sein, um bei einem Vorhaben weiterzukommen. Aber wenn Kinder etwas vorhaben und dabei Freude empfinden, dann suchen sie sich dafür die Informationen, die sie brauchen. Sie müssen nur wissen, was alles verfügbar ist.
Eltern können
und dürfen anbieten, aber nicht aufdrängen
Was ist mit „Anbieten“ genau gemeint? In dem Beispiel zu Beginn dieses Artikels würde das einfach bedeuten: Die Eltern essen Reis. Das ist das ganze „Zur-Verfügung-Stellen“, das das Kind
benötigt. In dem Moment, in dem Eltern eine Unterrichtseinheit zum Thema „Reis“ starten, wird dem Kind die Initiative genommen; und auch das Vertrauen des Kindes in sich selbst. Wissen allein
macht gewiss nicht glücklich. Schon gar nicht, wenn es nicht aus eigenem Antrieb erlangt wurde.
Was können Eltern also tun? Ich schlage unter anderem
vor: einen Garten anlegen und pflegen, Musik machen, Musik hören, zuhören, wandern, reisen, singen, lesen, sich verbinden, lieben, lachen. Eltern können Lehrer sein, was Freude, Großzügigkeit und
Dankbarkeit betrifft. Und zwar indem sie diese Qualitäten einfach selbst leben. Ein Fluss gibt auch einfach, ohne sich aufzudrängen. Er springt nicht etwa aus dem Flussbett, nur um den Baum am
Ufer mit Wasser zu versorgen. Nein, die Bäume sind es selbst, die sich dafür entscheiden, in der Nähe des Wassers zu wachsen. Das ist nicht die Angelegenheit des Flusses. Der ist einfach da.
Liebe Eltern, seid einfach da … wie ein Strom der Liebe …
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