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Lernen ist persönlich – Was ist „Freilernen“? Ein Beschreibungsversuch

erschienen im Magazin "unerzogen" (Heft ß1/2020)

Freilernen – was ist das eigentlich? Manche haben noch nie davon gehört. Andere wiederum haben klare Vorstellungen davon, obwohl sie sich noch gar nicht eigenständig damit auseinandergesetzt haben. Die Folge: Annahmen, Vorurteile, Missverständnisse. Hier also ein „Erklärungsversuch“.

 

Freilernen – darunter ist zunächst ein Bildungsweg zu verstehen. Ein Bildungsweg, der in Ländern wie zum Beispiel Großbritannien, Irland, USA, Kanada, Australien, Neuseeland unter der Bezeichnung „self-directed learning“ oder „unschooling“ etabliert und uneingeschränkt möglich ist. Es ist ein Bildungsweg, bei dem junge Menschen ihre Bildung selbst in die Hand nehmen. Es ist ein Bildungsweg, bei dem junge Menschen nicht „vorsätzlich zur Schule geschickt werden, weil man das eben so macht“. Ein Bildungsweg, der das Recht auf Bildung ernstnimmt und es nicht zur auf bestimmte Weise zu erfüllenden Pflicht verkehrt. Ein Bildungsweg, der den Menschen frei wählen lässt.

 

In Deutschland ist das aufgrund der Schulanwesenheitspflicht legal nicht möglich. Auch in Österreich nicht. Hier herrscht Unterrichtspflicht. Junge Menschen können zwar der Schule fern bleiben und den so genannten Hausunterricht besuchen, mit Wahlfreiheit hat das aber wenig zu tun, denn am Ende des Jahres warten Prüfungen nach staatlichem Lehrplan. Bei Nicht-Bestehen heißt es: Ab in die Schule. Dennoch gibt es immer mehr Familien in Deutschland und Österreich, die die Äußerungen ihrer Söhne und Töchter ernst nehmen und ihnen diese Wahlfreiheit – eben ihr Bildungsrecht – zugestehen. Freilernen ist letztendlich eine Haltung. Eine respektvolle Haltung dem jungen Menschen gegenüber. Nein, Freilernen lässt sich weder auf eine Anti-Schulhaltung reduzieren, noch handelt es sich um eine neuartige Lernmethode. Es geht um den Willen und die Würde des jungen Menschen – außer- und innerhalb von Institutionen sowie Familien. Von Geburt an ist und bleibt der junge Mensch ein Mensch; und kein Ding, über das Eltern oder Staat verfügen.

 

 

 

Wie ist das mit dem Lernen?

 

Auch wenn die wissenschaftlichen Ergebnisse schon seit langer Zeit vorliegen, hält sich hartnäckig der Glaube, dass Bildungserwerb ausschließlich in der Schule möglich ist. Ganz allgemein lässt sich jedoch sagen: Lernen und Bildung finden immer und überall statt und sind an keinen Ort und keine Institution gebunden. Freilernen bezeichnet ein vom jungen Menschen selbstgesteuertes Lernen in seinem jeweiligen Lebensumfeld, im Unterschied zum Schulunterricht und zur klassischen Form des Hausunterrichts (auch als „Homeschooling“ bekannt). Bei dieser Art des Lernens gibt es keinen geplanten Unterricht oder bestimmte Zeiten am Tag, für die schulähnliche Aktivitäten vorgeschrieben sind. Der Bildungsweg des Freilernens stützt sich auf kognitions- und neurowissenschaftliche Erkenntnisse, auf internationale Forschung und internationale Erfahrungen. Genaueres über Studien und Informationen rund um die Themen „Lernen“ und „Freilernen“ lässt sich in den umfassenden Studien und Büchern von Wissenschaftlern wie zum Beispiel Alan Thomas oder Peter Gray nachlesen. Beim Freilernen kommen jedenfalls folgende Leitlinien zum Tragen:

 

·         Zu einem großen Teil passiert Lernen durch das so genannte Informelle Lernen. Dabei handelt es sich um kein strukturiertes, schematisch geordnetes Lernen, sondern um ein Lernen in Sinnzusammenhängen. Es passiert oft unbemerkt, Schritt für Schritt.

 

·         Die Motivation, sich immer weiter ins Detail zu begeben und die Umgebung „besser“, also genauer, nachahmen zu können, ist intrinsisch. Sie kommt also von innen und ist ein aktiver, kreativer Prozess. Es handelt sich um gezielte Selbststeuerung. Die Begeisterung ist es, die den (jungen) Menschen antreibt, alle weiteren Schiritte zu setzen und zu seiner persönlichen Disziplin zu gelangen. Wissenschaftlich gilt es heute als unbestritten, dass wirkliches Lernen – also nachhaltiges – nur durch die Triebfeder der Begeisterung stattfinden kann. Christiane Ludwig-Wolf, Autorin und Mutter von vier mittlerweile erwachsenen Freilernern dazu: „Lernen ist eine zutiefst intrinsische Angelegenheit, die niemand von außen machen kann. Natürlich kann es bessere oder ungünstigere Voraussetzungen dafür geben, bestimmte Dinge zu lernen, aber es kann von außen weder verhindert  noch erzwungen werden.“

 

·         Was jeden einzelnen begeistert, ist unterschiedlich und sehr individuell. Die gesamte Entwicklung eines Menschen ist hochgradig individuell. Der Schweizer Kinderarzt Remo Largo wies das in Bezug auf die Sprachentwicklung nach. Die ungarische Kinderärztin Emmi Pikler beschrieb die individuelle Entwicklung vor allem im Bereich der Bewegung.

 

Kurz: Lernen ist persönlich. Es ist die Entscheidung jedes einzelnen Menschen, wie er sich wann, wo und in welchem Rahmen etwas aneignen will. Freilernen gibt dieser Tatsache Raum. Und wenn wir erst einmal – durch Beobachtung und Erfahrung – anerkannt haben, dass Bildung so „funktioniert“, dann kann vielleicht auch irgendwann die Skepsis, der Widerstand gehen. Dann gibt es Platz zum Erleben, zum Zurücktreten, zum Staunen. Marietta Ullmann, Bloggerin und Autorin, beschreibt in einer Ausgabe der deutschen Freilerner-Zeitschrift am Beispiel des frühen Lesenlernens ihrer Tochter sehr treffend: „Was mich bewegt, ist die Freude daran, wie einfach und spielerisch lesen lernen geht, wenn wir nichts tun als Fragen beantworten und da sein. Und wie kompliziert es werden kann, wenn wir Kindern etwas beibringen wollen, was sie nicht interessiert. […] Lesen lernen war für Miriam ein Spiel. Unseren Sohn interessiert es nicht im Geringsten, ob irgendwo ein A oder B steht. Seine Spiele sind andere. Die Freiheit des freien Lernens besteht für mich genau darin: meine Kinder und mich zu nichts motivieren zu müssen – die Begeisterung ist von selber da – nur eben nicht immer für das, was im Lehrplan steht. Frei zu sein für das, was gerade begeistert. Das ist so eine enorm froh machende Lebensweise. Und lässt so viel Potential erblühen.“

 

 

 

Freilernen als Lebenseinstellung

 

Beim Freilernen geht es also nicht um ein weiteres pädagogisches Regelwerk, sondern um einen anderen Blick auf das Lernen als höchstpersönliches und natürliches Bedürfnis jedes Menschen und gleichzeitig um eine andere Haltung dem jungen Menschen gegenüber  als gleichwertiger und gleichwürdiger Mitmensch. Das bedeutet, seine spontanen Bedürfnisse, Emotionen und Äußerungen genauso ernstzunehmen wie jene Erwachsener oder die eigenen und an den sich daraus ergebenden Situationen gemeinsam zu wachsen. Getragen vom Vertrauen, dass jeder junge Mensch wiss- und lernbegierig die Welt entdecken und verstehen und im ständigen Spiel seine Gaben und Potentiale zur Entfaltung bringen will, verstehen sich freilernende Eltern und andere Bezugspersonen als Unterstützer und Begleiter der Lernprozesse, ohne diese bewerten oder lenken zu wollen. Jungen Menschen wird dadurch gestattet, ihre Erfahrungen zu machen. Dabei werden sie wohlwollend begleitet. Sie leben im realen Leben, in ihrer realen Umwelt. In einer nicht perfekten Umwelt. In einer Umwelt, die ihnen ganz genau mitteilt, „was Sache ist“. Es ist schlicht und ergreifend unmöglich, nicht in die Werte der Gesellschaft hineinzuwachsen und seine Gaben für die Gemeinschaft einbringen zu wollen. Das ist etwas, was alle Menschen zutiefst in sich tragen; diesen Wunsch, dazuzugehören und positiv beizutragen. Nein, es ist kein Fehler, die guten Samen in jedem Menschen von Anfang an zu gießen und ihr Gedeihen zu unterstützen. Das geht allerdings nur in einem Umfeld mit Wertschätzung und Annahme. In einem Umfeld voll Respekt, Vertrauen und Liebe.

 

Und das bedeutet wiederum eine Veränderung an den Wurzeln dieser Gesellschaft, die sich in großem Maß über Wettkampf, Vergleich und Übervorteilung definiert. Eine radikale Änderung im Umgang mit jungen Menschen. Astrid Lindgren meinte in ihrer Rede „Niemals Gewalt“ anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1978: „Sie, meine Freunde, haben Ihren Friedenspreis einer Kinderbuchautorin verliehen, und da werden Sie kaum weite politische Ausblicke oder Vorschläge zur Lösung internationaler Probleme erwarten. Ich möchte zu Ihnen über die Kinder sprechen. Über meine Sorge um sie und meine Hoffnung für sie.“ Sie verstand sehr genau, dass die Ursachen für die gesellschaftlichen Krisen hier zu verorten sind. 40 Jahre später schreibt André Stern – Autor, Musiker und Referent in Sachen Bildung – dazu: „Entscheiden wir uns, die natürlichen Veranlagungen des Kindes ohne Wertung oder Abwertung zu akzeptieren, dann verlangt dies, dass wir unsere eigenen Erfahrungen, Erwartungen, Vorstellungen, Gewohnheiten, Wünsche und Konditionierungen beiseitelegen. Da wir alle so sehr davon geprägt sind, kann uns das destabilisieren und schwierig erscheinen. Doch es gibt einen Weg, schwerwiegende Fehler zu vermeiden und die Angst zu überwinden: niemals von uns selbst, immer vom Kind ausgehen. Machen wir also Tabula rasa mit unseren Glaubenssätzen. Gehen wir vom Kind aus, lassen wir uns von der Begeisterung mitreißen, sie zu beobachten, bewundern wir den Genius der Natur. Alles, was das Kind braucht, ist Vertrauen. Grenzenloses Vertrauen, das man ihm entgegenbringt, Vertrauen, dass das Spiel, welches es spielt, das richtige ist, Vertrauen in die Relevanz seines aktuellen Entwicklungsstadiums. Es geht um Vertrauen, darum, das Vertrauen der Eltern wieder herzustellen, und das Vertrauen der Kinder zu bewahren.“

 

Ein Kind zu respektieren bedeutet auch, sich seines eigenen Zwangs, dem Kind ständig etwas zeigen oder erklären zu wollen, bewusst zu werden. Und sich aufrichtig dafür zu entscheiden, weniger zu (be)lehren; stattdessen mehr zu schauen und zu staunen. Weniger Aufgaben zu stellen; stattdessen wahrzunehmen, welche – oft unglaublich komplexen – Aufgaben sich der junge Mensch selbst stellt. Weniger zu diktieren; stattdessen interessiert zu sein, präsent sein. Weniger zu befehlen; stattdessen mehr zu beobachten. Weniger zu beurteilen; stattdessen mehr wertzuschätzen Das schafft gute Lernbedingungen und -ergebisse. Das ist zukunftsweisend; unabhängig davon, wie diese Zukunft aussehen mag.

 

 

 

Warum diese Haltung so wichtig ist

 

Was die Zukunft bringen wird, wissen wir nicht. Im Moment sieht es allerdings nicht gut aus. Eine von 22 Wissenschaftlern aus der ganzen Welt im Jahr 2017 in der Zeitschrift „Nature Climate Change“ veröffentlichte Studie kündigte an, dass bis 2100 75% der Menschheit nicht mehr existieren werde. den letzten 20 Jahren sind 75 Prozent der Insekten und 40 Prozent der Feldvögel verschwunden. Schmetterlinge, Vögel, Fische, ja alle großen Säugetiere sind gerade mit dem Aussterben „beschäftigt“. Weg. Für immer. Am Ende dieses Jahrhunderts wird es keinen Regenwald mehr geben. Mittlerweile werden sogar die Pole und die Tiefsee nach Bodenschätzen und Erdöl durchwühlt. Das Leben in und um die Riffe und Seeberge erlischt. Während der Meeresspiegel wegen der schmelzenden Eismassen um zwei Meter ansteigen wird. Computer und Mobiltelefone bestimmen das Leben vieler Menschen. Das hat nicht nur Auswirkungen auf Gesundheit und Beziehungsgestaltung. Die Bodenschätze, die dafür gebraucht werden, fordern täglich unzählige Menschenleben. Alle sechs Sekunden stirbt außerdem ein Mensch unter fünf Jahren an den Folgen von Unterernährung. Das sind 15.300 täglich oder 5,6 Millionen pro Jahr. Während jedes dritte „Kind des Westens“ per Kaiserschnitt, jedes zehnte zu früh geboren wird. Auch das bleibt nicht ohne Folgen. Ein Ansteigen bestimmter Krankheiten steht damit in Verbindung, physisch wie psychisch. Von Frieden sind wir weit entfernt. Der Autor, Dokumentarfilmer und Fotograf Michael Mendizza fängt folgendes Bild in den USA ein: „Jedes Jahr laufen eine Million Kinder von zu Hause fort – acht Millionen Kinder verbringen mehr Zeit in der Tagesbetreuung als mit den Eltern. Der Anteil berufstätiger Mütter steigt sprunghaft an. Dieses Jahr werden allein zwanzig Millionen Rezepte für höchst suchterregende Psychopharmaka an Kinder – sogar bereits im Vorschulalter – ausgestellt, um deren Verhalten zu kontrollieren. Selbstmord als Todesursache rangiert unter amerikanischen Kindern an dritter Stelle, und das bedeutet einen Teenager-Selbstmordversuch alle 78 Sekunden.“

 

Aus all dem ergibt sich wohl nur eine einzige große Frage: Wie wollen wir jetzt leben, damit die nachfolgenden Generationen eine noch lebenswerte Umwelt vorfinden? Und da kommt die oben beschrieben Haltung zum Tragen. Friede beginnt beim Umgang mit den uns anvertrauten jungen Menschen. Astrid Lindgren nochmal: „Die jetzt Kinder sind, werden ja einst die Geschäfte unserer Welt übernehmen, sofern dann noch etwas von ihr übrig ist. Sie sind es, die über Krieg und Frieden bestimmen werden und darüber, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen. In einer, wo die Gewalt nur ständig weiterwächst, oder in einer, wo die Menschen in Frieden und Eintracht miteinander leben. […] Ein Kind, das von seinen Eltern liebevoll behandelt wird und das seine Eltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt diese Grundeinstellung sein Leben lang. […] In keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun.“

 

Kurz: Wie kann sich ein Mensch seinen Mitmenschen und der Umwelt gegenüber respektvoll verhalten, wenn seine eigenen Bedürfnisse über Jahre hintangestellt und seine besonderen Gaben nicht wertgeschätzt wurden? Die Würde der Kinder zu wahren, ist der erste und entscheidende Schritt zu einem globalen kulturellen Klimawandel. Nur Menschen, denen respektvoll begegnet wird, werden in der Lage sein, zu einem achtsamen Umgang mit der Erde und ihren Ressourcen zurückzufinden, andere Lebewesen zu respektieren und wertzuschätzen. Eltern, die sich selbst und ihren Kindern freies Lernen und Wachsen zugestehen, geht es genau darum. Um diese nachhaltige Lebensgrundlage für ein positives, sinnerfülltes Leben. Der Kinderarzt und Autor Herbert Renz-Polster sieht das in seinem aktuellen Buch „Erziehung prägt Gesinnung“ ähnlich: „Wer will, dass es unter Menschen menschlich zugeht, muss den Menschen eine sichernde, ermutigende Kindheit zugestehen. […] Denn Kinder, die ihre Kindheit innerlich unverletzt, mit Selbstvertrauen, wachen Augen, Einfühlungsvermögen und Mut unter dem Herzen verlassen, sind widerstandsfähig. […] Allen Kindern ist eine solche Kindheit zu wünschen.“

 

 

 

Freilernen und Schule

 

Mit dem Begriff „Freilernen“ wird oft ein Angriff auf die Institution Schule verbunden. Entstanden ist diese Annahmen aus dem Versuch, das englische Wort „unschooling“ ins Deutsche zu transferieren. Wörtlich wäre das dann: „ohne Schule“. Sich also von  Beschulung, Schule frei machen, lösen. Der Begriff verführt allerdings dazu, das Hauptaugenmerk auf das Gegeneinander zu richten. Worum es aber letztlich nicht geht. Der Philosoph Bertrand Stern entwickelte deshalb den Begriff „Frei sich bilden“: Dieser versucht zu beschreiben, dass Bildung etwas ist, dass aktiv und selbstgesteuert stattfindet. Und ja, auch frei, unbegrenzt ist. Im deutschsprachigen Raum etablierte sich auch der Begriff „Freilernen“. Natürlich beinhaltet dieser auch ein „frei von institutionellem, gerastertem, gleichgeschaltetem Lernen“. Aber die Betonung liegt eindeutig auf dem „Wie findet der Wissenserwerb statt?“ Nämlich selbstinitiiert, selbstgesteuert, im eigenen Tempo. Christiane Ludwig-Wolf dazu: „Das Wort „Freilerner“ hat für mich das Potential, nicht nur mit Negieren von Schule verbunden zu werden, sondern positiv mit dem, was wir auf welche Art und Weise tun und mit unserer Haltung dem Leben gegenüber. Damit schwindet das Trennende – frei Lernen und die dahinterstehende Haltung ist überall möglich, außerhalb oder innerhalb von Schule, zusätzlich zur Schule, für sehr junge Menschen und für Ältere.“

 

Freilernen heißt: Mit dem jungen Menschen über seine Bildung sprechen und seine Wahl voll und ganz zu unterstützen. Es kann sein, dass er sich für ein Leben ohne Schule entscheidet, einige Jahre später aber eine Schule besuchen will. Genauso gut kann ein junger Mensch die Schule als Bildungsort wählen, verlässt diese aber irgendwann wieder, weil er sich anderen Bildungsmöglichkeiten zuwendet. Und das ist es, was freilernenden Familien wichtig ist: die Wahlfreiheit. Bildung ist so vielfältig, vielschichtig. Schule ist eine Möglichkeit, aber nicht die einzige, und auch nicht „für immer und ewig“. Flexibilität muss möglich sein. Das sieht auch Peter Gray so, Professor für Psychologie am Boston College und Autor des Buches „Befreit Lernen“: „Die grundlegendste aller Freiheiten ist die Freiheit, etwas abbrechen und weggehen zu können. Schulen werden nur dann zu ethisch vertretbaren (Bildungs-)Einrichtungen werden, wenn Kinder die Freiheit haben, sie zu verlassen.“ Diese Wahlfreiheit brauchen und verdienen Menschen. Und diese Wahlfreiheit gesteht das Freilernen zu. Im 18. Jahrhundert äußerte sich der deutsche Schriftsteller Friedrich Hölderlin in Bezug auf Lernen und Freiheit folgendermaßen: „Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen, dass er, kräftig genährt, danken für alles lern und verstehe die Freiheit, aufzubrechen, wohin er will.“

 

Genau daran scheitert es aber im heutigen Schulsystem. Schule wird meist vorgegeben, gilt als unausweichlich, um gebildete Menschen hervorzubringen. Bildung ist aber mehr als das Anhäufen von Fakten, als die Vorgabe von Wissen. Viele Bildungsexperten und Eltern sind sich heute einig: Bildung muss ganz andere Qualitäten umfassen. Bildung muss Herzensbildung sein. Muss Menschen dazu befähigen, nachzudenken, zu reflektieren, gute und verantwortungsbewusste Entscheidungen zu treffen; und vor allem: Bildungsorte müssen Orte sein, die Begeisterung aufrechterhalten und Individualität unterstützen. In all diesen Bereichen weist das Schulsystem Mängel auf. Muhammad Yunus, indischer Wirtschaftswissenschaftler und Friedensnobelpreisträger, zum „heutigen primären Bildungssystems“: „Wir helfen den jungen Leuten nicht herauszufinden, wer sie sind und welches ihre Rolle in der Welt sein könnte. Das stillschweigende Ziel der heutigen Schulbildung könnte so lauten: Arbeite hart, schreib gute Noten und kämpfe darum, den besten Job zu ergattern. Das ist deprimierend. Der Mensch kommt ja nicht zur Welt, um für einen anderen Menschen zu arbeiten und sein Auskommen zu haben; er ist ein einzigartiges Geschöpf in einer Welt voller Schöpfungen. Aber diese Einzigartigkeit wird völlig beiseite geschoben, verdrängt, in ein Schema gepresst. Erziehung müsste darin bestehen zu sagen: Du bist ein Mensch voller Potential, du hast die Kraft, das zu werden und das zu tun, was du willst. Es gibt zehntausende Optionen, die dir offen stehen. In welcher Welt möchtest du leben? Was für eine Gesellschaft willst du mit aufbauen? Heutzutage ist es nämlich so, als würde man allen Schülern ein Skript in die Hand rücken und sie auffordern, ganz brav ihre Rolle in der Gesellschaft zu spielen. Die meisten Schulen arbeiten daran, Maschinen aus den Kindern zu machen, Roboter. Das muss sich ändern.“

 

Freilernen ist kein Lebens- und Bildungsweg, der Schule ausschließt. Aber natürlich wünschen sich freilernende Familien Schule als einen „guten Ort“, einen Ort, an dem „wahre Bildung“ möglich ist. Blake Boles, Autor und Referent für selbstbestimmte Bildung, fasst dieses Bedürfnis folgendermaßen zusammen: „Was auch immer Bildung ist, sie muss befähigen, ein eigenes Leben zu führen. Sie muss die Chancen minimieren, manipuliert zu werden, zur Schachfigur gemacht zu werden, ein Schauspieler im Spiel eines anderen zu sein. Jeder Ort, der behauptet, zu „bilden“, muss jungen Menschen echte Autonomie geben, ihnen helfen, tatsächliche Kompetenzen zu entwickeln und tatsächliche soziale Beziehungen unterstützen. Er muss selbstbewusste und selbstmotivierte Menschen hervorbringen, keine angstgesteuerten Arbeiterbienen, die auf ihre nächsten Befehle warten. Bildungsorte müssen Menschen inspirieren und zusammenbringen – so wie wir uns das Ideal der Schule vorstellen -, nicht ihre Seelen zerquetschen und sie voneinander isolieren – wie es allzu oft die Realität der Schule ist.“

 

 

 

Ja aber …

 

Was in englischsprachigen Ländern bereits gang und gäbe ist, stößt in anderen Ländern derzeit noch auf Widerstand. Die Freiheit, von der das Freilernen spricht, wird häufig missverstanden. Dann regnet es Einwände.

 

Zum Beispiel: Aha, das bedeutet also, dass Freilerner eine Laissez-faire-Haltung leben? Die Antwort kurz und bündig: Nein, das bedeutet es nicht. Freilernende Menschen werden keineswegs sich selbst überlassen, wodurch sie sich zu asozialen, egoistischen Mitbürgern entwickeln. Sie werden einfach ernst genommen, nicht abgewertet, nicht bevormundet. Sie werden als respektvolles Gegenüber betrachtet, mit dem nach Lösungen gesucht wird. Astrid Lindgren fasste in ihrer Rede gegen Gewalt Ende der 1970er-Jahre zusammen: „Freie […] Erziehung bedeutet nicht, dass man Kinder sich selbst überlässt, dass sie tun und lassen dürfen, was sie wollen. Es bedeutet nicht, dass sie ohne Normen aufwachsen sollen, was sie selber übrigens gar nicht wünschen. Ganz gewiss sollen Kinder Achtung vor ihren Eltern haben, aber ganz gewiss sollen Eltern auch Achtung vor ihren Kindern haben, und niemals dürfen sie ihre natürliche Überlegenheit missbrauchen. Liebevolle Achtung voreinander, das möchte man allen Eltern und Kindern wünschen.“

 

Eine andere Angst, die ihr Unwesen treibt, ist jene vor der Zukunft: Also wenn man den jungen Menschen seine Bildung selbst in die Hand nehmen lässt, wie kann man dann sicherstellen, dass er gut vorbereitet ist, dass er klar kommt, dass er einen guten Job bekommen wird? Mit anderen Worten: Ist diese Art von Bildung eine Garantie für ein „erfolgreiches Leben“, ist sie messbar? Dahinter steht der nachvollziehbare Wunsch, den jungen Menschen gut vorzubereiten und abzusichern. Nur lässt sich schlicht und ergreifend nicht sagen, was kommt. Insofern kann kein Bildungsweg eine Garantie abgeben, auch jener innerhalb einer Institution nicht. Es geht darum zu erkennen, welche Art von Bildung am meisten Sinn macht. Gehorsame oder Desillusionierte braucht diese Erde aber gewiss nicht. Peter Gray schlägt Folgendes vor: „ Es gibt zwei Maßstäbe, um ein Bildungssystem zu bewerten: (1) Sind die Kinder glücklich damit? Falls nicht, dann ist dieses System ein eindeutiger Misserfolg. Denn jede Art von Bildung, die Kinder unglücklich macht, kann nicht gut sein. (2) Entwickeln sich die jungen Menschen durch die Art und Weise, wie sie sich bilden, zu glücklichen, moralischen und produktiven Bürgern, in dem Sinn, dass sie gut und gern zur Gestaltung einer größeren Gemeinschaft beitragen? Wenn ja, dann ist ihre Art der Bildung ganz offensichtlich eine gute. Denn nur das sind legitime und erstrebenswerte Ziele von Bildung.“

 

1981 meinte der Wiener Maler und Architekt Friedensreich Hundertwasser: „Unser wahres Analphabetentum ist nicht das Unvermögen, Lesen und Schreiben zu können, sondern das Unvermögen, wahrhaft schöpferisch tätig zu sein. Das Kind besitzt diese schöpferische Fähigkeit.“ Sollten wir diese also nicht erhalten und immer wieder neu beleben?! Sollten  in einer Demokratie nicht verschiedene Bildungswege möglich sein? Wann wird es soweit sein, dass neue Bildungswege keine Angst mehr machen, sondern zugelassen und als Bereicherung gesehen werden? Wann wird das „nur Entweder-Oder“ enden?  Das Gegeneinander? Wann wird  sich unser aller Blick für eine lebenswerte Zukunft dieses Planeten schärfen? Wann werden wir damit beginnen, Sinnvolles zuzulassen? Und diese natürlichste Art des Lernens und Lebens zu erkennen und zu unterstützen? Freilernen ist einfach „mehr“. Es ist eine Hommage an die Würde aller Lebewesen, allen Lebens …

 

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